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Primärliteratur

   QUELLENTEXT
Titel Stationen und Erfahrungen
a.d. Reihe Schriftsteller zum 30. Jahrestag unserer Republik
Autor Harry Thürk
Publikation Neues Deutschland (ND am Wochenende), 29./30.09.1979; S. 9
Quelle Verlagsarchiv Neues Deutschland, Alt Stralau 1-2, 10245 Berlin
   
Textart Reflektion, Porträt, Volltext
Anlass, Thema Anekdoten und Erinnerungen zum Jahrestag der DDR
Textstruktur 7 Spalten mit Trennlinie, 8 Punkt mit Serifen, Blocksatz mit Vorschub, 2 s/w-Bilder.
   
Anm. d. Red.: Dieser Artikel wurde am Folgetag in der Süddeutschen Zeitung kurz kommentiert.
Schriftsteller zum 30. Jahrestag unserer Republik



Harry Thürk

Stationen und Erfahrungen

Es ist angebracht, Rückschau zu halten. 30 Jahre DDR sind ein guter Grund dafür. Ein bißchen Stolz auf das Erreichte bedeutet nicht den Augenverschluß vor der Notwendigkeit neuer Leistungen und Lösungen, er wird auch etwas befördern, das ich als die historische Sicht auf die DDR bezeichnen möchte. Jeder einzelne wird sich in diesen Tagen an Begebenheiten erinnern, durch die ihm – manchmal ganz überraschend – klar wurde, wie kompliziert der Entwicklungsprozeß unseres Staates war. Er wird vielleicht diesen ersten Staat der Arbeiter und Bauern auf deutschem Boden in das Bild der gegenwärtigen Welt einordnen. Dabei wird er an Stationen denken, die er selbst hinter sich gebracht hat, die ihn geprägt haben, so oder so. Auch Schriftsteller werden durch Erfahrungen geprägt, die sie in der Welt machen, in der sie leben. Manchmal unmerklich. Erst der Leser ihrer Arbeiten spürt dann später, aus welchem Erlebnisfundus ein bestimmter Autor schöpft und auf welche Weise ihn Erlebtes in seinem schöpferischen Denken beeinflußt hat. Ich will hier ein paar Gedanken äußern, wie es kam, daß meine Bücher nicht nur eine bestimmte Handschrift verraten, sondern auch ein bestimmtes Weltbild, eine Art, die Dinge und die Menschen zu sehen.

An das Jahr 1946 erinnere ich mich. Nach Thüringen gekommen, als Umsiedler, suchte ich mir die erstbeste Arbeit, die mich zunächst einmal als Bürger meiner neuen Heimatstadt ernähren und mit Wohnrecht versehen würde. Vom Arbeitsamt zum damaligen thüringischen Ministerium für Volksbildung in Weimar vermittelt, hatte ich dort nicht etwa Büroarbeiten zu leisten, sondern handfeste praktische Tätigkeiten. Die brachten mich auch in ein Zimmer, in dem ein Mann saß, der nicht sehr gesund aussah und der in bemitleidenswerter Weise mit dem rechten Zeigefinger auf einer Schreibmaschine tippte. Sein Frühstücksbrot war es, was mich zu der – damals verständlichen – Frage veranlaßte, ob das, was da drauf war, wirklich Wurst sei oder eine optische Täuschung meinerseits.

Ein Wurstbrot für geschickte Finger

„Es ist Wurst“, sagte der Mann gedehnt. Und dann: „Ich kriege ein bißchen mehr als üblich. Ich soll mich erholen. Damit ich noch eine Weile machen kann, bis ihr dann so weit seid.“

Für mich sprach er in Rätseln, ich blickte auf das Wurstbrot, bis er mir die Hälfte davon hinschob. Dazu die Frage, die eigentlich durch die Uniformhosen, die ich noch trug, bereits beantwortet gewesen wäre: „Soldat gewesen?“

Der Autor

Porträtfoto Harry Thürk 1977

Harry Thürk wurde am 8. März 1927 als Sohn eines Angestellten geboren. Er war im zweiten Weltkrieg Soldat und kam nach Kriegsende nach Weimar, wo er in verschiedenen Berufen, zuletzt als Bildreporter und Journalist, tätig war. Sein Debüt als Schriftsteller gab er mit Erzählungen wie „Nacht und Morgen“ (1950) und „Treffpunkt Große Freiheit“ (1954). Eine große Leserschar gewann er mit seinem in mehrere Sprachen übersetzten Kriegsroman „Die Stunde der toten Augen“ (1957) und mit einer Reihe von Romanen, die den nationalen Befreiungskampf der Völker zum Inhalt haben, so „Der Wind stirbt vor dem Dschungel“, „Lotos auf brennenden Teichen“ (1962) und „Der Tod und der Regen“ (1967). Harry Thürk wurde auch durch zahlreiche Fernsehspiele und Filmdrehbücher (u.a. „For eyes only“ und „Gefrorene Blitze“) bekannt. Beim Militärverlag erschienen aus seiner Feder zeitgeschichtliche Dokumentationen mit militärpolitischem Hintergrund, zum Beispiel „Pearl Harbour“ und „Indonesien 65“. Große Aufmerksamkeit erregte sein 1978 erschienener Roman „Der Gaukler“. Weitere Romane „Die Herren des Salzes“, „Der Narr und das schwarzhaarige Mädchen“, „Das Tal der sieben Monde“, „Verdorrter Jasmin“, „Die weißen Feuer von Hongkong“, „Amok“.

Der Autor wurde mit der Erich-Weinert-Medaille, dem Theodor-Körner-Preis, dem Kunstpreis der Stadt Weimar, dem Kunstpreis des FDGB und zweimal mit dem Nationalpreis ausgezeichnet. Er ist Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold.

Er ließ sich erklären wo und wie, nahm es ohne Kommentar zur Kenntnis. Was er da mit dem Zeigefinger tippte, waren Urkunden, mit denen Neulehrer ernannt wurden. „Lehrer“ war für mich aus verschiedenen, hier kaum zu erörternden Gründen ein Reizwort. Er merkte es und entlockte mir einige rüde Bemerkungen über meinen ehemaligen Schulleiter, den Herrn Stabszahlmeister, der gelegentlich in Uniform in die Schule kam. Mit Hund. Und Argusaugen für Schüler, die lieber in verlassenen Steinbrüchen Dynamit zündeten, als bei der Hitlerjugend das Strammstehen zu üben. Was mich betraf. Mit Konsequenzen, die einen weniger ausgeglichenen Menschen als mich vermutlich zur nächsten Zaunlatte hätten greifen lassen.

Der Mann an der Maschine machte ein ernstes Gesicht. Ich hatte bereits begriffen, daß er wortkarg war; nun hielt er mir eine für sein Naturell längere Rede.

„Siehst du“, sagte er, „das waren diese braunärschigen Knochenköppe, die in Deutschland viel zu lange solche Burschen wie dich so mit Unsinn vollgestopft haben, daß ihr es schließlich noch als Heldentod empfunden hättet, wenn ihr in irgendeinem Dreckloch krepiert wärt. Die Sorte jagen wir jetzt davon. In unseren Schulen gibt’s ab sofort neue Lehrer. Andere. Welche, die aus der Arbeiterklasse kommen. Damit in Deutschland endlich mal Vernunft einzieht.“

Dagegen hatte ich nichts. Als Gegenleistung für das Wurstbrot setzte ich mich an die Maschine und tippte ihm ein Dutzend Urkunden, denn ich hatte Maschineschreiben gelernt, und ich schaffte sein Dreistundenpensum in einer halben Stunde.

Er merkte es und murmelte etwas von geschickten Fingern, während er Zigaretten für uns beide drehte. Wir rauchten sie nach dem Dreistundenpensum. Eine Pause war zu verantworten. Ich erfuhr, daß der Mann elf Jahre als Kommunist in Erfurt in Einzelhaft gesessen hatte. Seine Frau war unterdessen gestorben. Die Wurstbrote machte seine Tochter. Sie war in meinem Alter, und sie harrte bis zur Befreiung ihres Vaters in der Wohnung im Gassenviertel um den Dom aus. Das Zellenfenster, hinter dem der Vater saß, konnte sie täglich sehen.

Ich war einem jener Schicksale der damaligen Zeit begegnet, einem Mann, den wir heute als „Aktivisten der ersten Stunde“ zu bezeichnen pflegen. Damals sah ich ihn nicht so. Für mich war er einfach ein ehrlicher, alter Mann mit einer Weltanschauung, für die er einiges eingesetzt hatte. Verglichen mit allem, was ich während meiner Schulzeit und später in der faschistischen Armee an „Persönlichkeiten“ kennengelernt hatte, gehörte er in eine völlig andere Kategorie. Manchen Tag konnte er sehr schlecht gehen. Er hatte als Andenken an den ersten Weltkrieg noch ein Holzbein. Ich bestaunte ihn, wenn er sich früh am Treppengeländer zu seinem Stockwerk hinaufhangelte. Er hätte zu Hause bleiben können, niemand hätte ihm Vorhaltungen gemacht. Er aber schüttelte eigensinnig den Kopf und meinte: „Nichts spielt sich ab, die Neulehrer müssen ernannt werden! Wenn du mal genug von der Welt verstehst, gehe ich auf Rente. Dann kannst du meinen Posten haben. Tippst sowieso besser als ich!“

Den Text der Neulehrerurkunde kann ich heute noch auswendig. Den alten Mann sehe ich manchmal vor mir. Wir sprachen damals oft miteinander, über vieles. Er agitierte mich nie, jedenfalls faßte ich es nie so auf. Er hatte das Gespür seiner Klasse, wie man mit einem jungen Menschen sprechen muß, der erst anfängt, sich ein Bild von der Welt zu machen. Ich bezweifle, daß er sich dessen bewußt war. Vielleicht hat er mich gerade dadurch zum Denken angeregt, zum Suchen, zur Parteinahme. Ich fand in der neuen Gesellschaft nicht nur Boden unter den Füßen, ich eignete sie mir an, als geistige Heimat. Nach und nach wurde ich zum Sozialisten. Um diese Zeit gab es den alten Mann mit den Neulehrerurkunden schon nicht mehr. Er starb, während ich außer Landes war. Wie ich hörte, hat es an seinem Grab keine große Gemeinde gegeben. Das war wohl in seinem Sinne. An seinem Haus befindet sich auch keine Gedenktafel. Er tat das, was er als Pflicht erkannte, und ging dann, beinahe unbemerkt. Ein Proletarier, dessen Leben und Kampf Erfüllung fanden. Was würde ich dafür geben, wenn ich ihm heute eines meiner Bücher in die Hände legen könnte! Daß aus mir einmal ein sozialistischer Schriftsteller werden könnte, hat er ganz gewiß nicht für möglich gehalten.

Übrigens hieß er Franz Schiller. In der Erfurter Glockenquergasse werden sich die Älteren vielleicht noch an ihn erinnern. Ehre seinem Andenken. Und: Dank, daß es ihn gab.

Mit Renn hinter Schloß und Riegel

Während ich diese Zeilen schrieb, kam die Nachricht vom Tode Ludwig Renns, den ich seit annähernd drei Jahrzehnten als einen der ehrlichsten, offenherzigsten und bescheidensten Kollegen in meinem späteren Berufsstand verehrt habe. Der Zufall wollte es, daß ich ihn bereits 1952 näher kennenlernte, als wir, vom Schriftstellerverband delegiert, Ungarn bereisten. Dort wurden wir beide gemeinsam für eine Nacht inhaftiert, eine der unglaublichsten Geschichten, die den Vorzug hat, wahr zu sein. Sachverhalt: Wir bereisten eine Gegend nahe der jugoslawischen Grenze, und zwar ohne Pässe, die gab es damals noch nicht, man bekam eine Einlage in seinen Personalausweis, und der blieb, während wir reisten, in Budapest. An jenem Tage waren nun (was wir nicht wußten) aus einem Budapester Gefängnis zwei Schwerverbrecher entflohen, deren Personenbeschreibung exakt auf Renn und mich paßte. Unweit von Debrecen ereilte uns der Arm des Gesetzes, wir waren verdächtig, konnten uns nicht ausweisen, sprachen nicht ungarisch, also wanderten wir hinter Schloß und Riegel, „bis zur Klärung der Sache“. Der recht höfliche Posten erkundigte sich, bevor er uns einschloß, ob wir noch etwas brauchten. Da verlangte der notorische Nichtraucher Renn mit todernstem Gesicht Zigaretten. Er bekam sie, die Tür schloß sich, und ich erwartete nun, daß Renn vielleicht aus Nervosität rauchen würde. Doch er drückte mir die Packung „Kossuth“ in die Hand und mahnte mich schmunzelnd: „Das mußt du noch lernen: in Einrichtungen wie der hier kann man nie genug zu rauchen haben, wenn man schon diesem Laster frönt!“

Am nächsten Tag klärte sich das Mißverständnis auf, und der Polizeichef von Debrecen gab uns zur „Versöhnung“ ein gewaltiges Bankett. Ludwig Renn, angesichts der Berge von Leckereien und der Batterie von Flaschen, die auf uns warteten: „Siehst du, im Gefängnis wars erträglich. Schlimm wirds erst jetzt!“

Kurioser Auftrag für den „Kammerdiener“

Mehrere Jahre später, als Ludwig Renn zu Lesungen in Frankfurt (Main) weilte, war ich zufällig auch dort. Ich buchte für ihn in einem kleinen Hotel, in dem ich auch logierte, ein Zimmer. Als er eintraf, holte ich ihn vom Bahnhof ab, brachte ihn ins Quartier und trug sein Gepäck. Nun schrieb sich Renn ins Hotelregister unter seinem Adelsnamen Arnold Vieth von Golßenau ein. Worauf der Portier mich prompt für seinen „Kammerdiener“ hielt und sich erkundigte, ob ich bewaffnet sei. Als ich das verneinte, wollte er wissen: „Aber wie wollen sie ihn denn da zwingen, wieder in die Ostzone zurückzugehen?“ Ludwig Renn hat ausgiebig darüber gelacht, und er erzählte mir dann eine Geschichte aus seiner Haftzeit, die ebenfalls davon zeugt, wie dumm Leute sein können. Damals hatte sich unter den vielen kommunistischen Gefangenen in der Haftanstalt herumgesprochen, daß der berühmte Ludwig Renn einsaß. Beim Hofgang begrüßten sie ihn stumm mit geballten Fäusten. Worauf der Wächter in den Hof brüllte: „Aufhören! Hier darf niemandem gedroht werden!“

Für Ludwig Renn war die DDR die Erfüllung eines langen, kampfbetonten Lebens gewesen. Ich stand dabei, als am Abend seiner Lesung ein alter Frankfurter Gaswerkarbeiter ein zerlesenes Exemplar der Erstausgabe von „Krieg“ vorwies und mit bewegter Stimme um ein Autogramm bat. Er habe das Buch über die Nazizeit gerettet, ohne damit zu rechnen, daß er jemals dem Autor von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde. Ich war in diesem Augenblick stolz darauf, aus demselben Staat zu kommen wie Renn. Ein wenig auch darauf, daß ich – wenngleich als Anfänger – denselben Beruf wie er hatte: Schriftsteller des ersten solzialistischen Staates auf deutschem Boden.

Ein Schriftsteller, das ist zu meiner festen Überzeugung geworden, darf die Kämpfe seiner Zeit nicht nur aus der Ferne beobachten, er muß an ihnen teilhaben. Das bringt ihn zur Parteinahme. Ohne sie wird er ein blasser Klugschwätzer bleiben, über den bestenfalls ebenso blasse Klugschwätzer ihre theoretischen Ergüsse verbreiten werden, dem Lesepublikum wird er nicht viel zu sagen haben. Aus diesem Grunde habe ich in den dreißig Jahren, in denen Schriftsteller in unserem Land die Achtung von Staat und Partei genießen, keine Gelegenheit versäumt, meine Nase sozusagen in den Sturm der zeitgeschichtlichen Prozesse zu stecken. Wenn ich vorhin von den Grunderlebnissen schrieb, so sei hier ein letztes Wort zum Vietnamkrieg gesagt. Auch er gehört zu jenen Erfahrungen, die meiner Generation ihr Siegel aufdrückten. Haß und Liebe, ich habe beides in mir wachsen gefühlt, während ich zwischen Reisfeldern und Dschungeln versuchte die Wahrheit über eine endlose Kette der barbarischsten Verbrechen zu ergründen, die der Menschheit bekannt sind. Von 1964 an, als die ersten amerikanischen Bomben auf die DRV fielen, bin ich oft dortgewesen. Solidarität ist nicht nur ein Wort. Es gehört zu den Errungenschaften, auf die unser 30jähriger Staat stolz sein kann, daß Solidarität zu einem Wesenszug unseres Lebens wurde. Das geschah nicht zuletzt angesichts des Todes, der das Bruderland in Asien heimsuchte. Zu vieles von dem, was ich in den Jahren des Krieges in Vietnam sah, läßt sich kaum niederschreiben. Das Deckungsloch, in dem der Hanoier Blechstanzer am Morgen, als er zur Arbeit ging, seine Frau mit dem zweijährigen Mädchen untergebracht hatte, und vor dem er am Abend fassungslos stand, weil es nun ein Trichter war, gefüllt mit Fleischfetzen und Blut. Der verkohlte Körper einer alten Frau, den Soldaten aus den Trümmern bargen und den sie an einem amerikanischen Herrn Fliegermajor vorbeitrugen, den der Fallschirm gerettet hatte. Die Milizionärin, die verzweifelt auf die Familie der alten Frau einredete, sie ermahnte, keine Rache an dem Herrn Major zu üben. (Ich interviewte ihn etwas später im Gefangenenlager: „Ich bin Soldat, ich folge Befehlen, persönlich habe ich eigentlich nichts gegen Vietnamesen.“ Im übrigen wäre der Einsatz hier ja wirklich kein Vergnügen, auf dem Flugzeugträger gäbe es keinen Golfplatz wie vorher in Germany/W. Und überhaupt: „Das Bier in Germany...“)

Bin ich wirklich „Nichtkombattant“?

Einmal, es war 1971, lag ich in einem vietnamesischen Hospital. Aber ich konnte schon wieder auf den Beinen stehen, und als die Kameraden des Herrn Majors sich über uns austobten, riß mir der Geduldsfaden, ich griff mir eine Waffe und legte an. Wer eigentlich wollte mir das Recht nehmen, mich zu wehren? Bis heute habe ich einen freundschaftlichen Groll auf jenes junge Milizmädchen im Tropenhelm, das plötzlich neben mir auftauchte und mir die Waffe sanft aus der Hand nahm, um selbst zu schießen. Um mir später, als es ruhig wurde, zu sagen: „Du bist Nichtkombattant. Werd gesund und schreibe.“

Bin ich wirklich Nichtkombattant? Dreht es sich nicht eher um die Art von Waffe, die ich benutze? Stehe ich denn nicht mit der Schreibmaschine gegen die Bomben?

Zwei Stahlsplitter aus dem Deckungsloch
  Wolfgang Mattheuer, Der Anfang, 1971

Wolfgang Mattheuer, Der Anfang, Öl, 1971
Ich halte es mit der alten, im jahrzehntelangen Klassenkampf erprobten Wahrheit, daß die Kunst eine Waffe ist. Man kann sie für eine Klasse einsetzen oder für die andere. Dazwischen ist kein ehrenhafter Platz. Höchstens die Spielwiese für Opportunisten, für charakterlose, klugschwätzende Chancenjäger, denen irgendein speziell für sie erfundener bürgerlicher „Literaturpreis„ winkt, mit anschließender Reise zur Besichtigung der Schönheiten Amerikas. Was mich betrifft, so kenne ich von Amerika am besten den Gestank, den brennendes Napalm verbreitet und das Aussehen menschlicher Haut, auf der es seine „befreiende Mission“ verrichtete. Schönheiten sind mir erspart geblieben. Man hält sie wohl auch weniger für Sozialisten bereit, sondern eher für Gleichgesinnte.
Einmal, als ich mich in Vietnam nach einem Angriff aus einem Deckungsloch erhob, nahm ich zwei scharfkantige Splitter auf, die neben mir eingeschlagen waren. Vierzig Zentimeter, vielleicht fünfzig. Ich habe sie mit nach Hause genommen. Zuweilen, wenn mir aus bundesdeutschen Medien eine gehobene Stimme ins Ohr geht, die von Menschenwürde und Bürgerrechten redet, von der im Sozialismus angeblich bedrohten Freiheit des Individuums, möchte ich dem Sprecher einfach auf dem Handteller die beiden Splitter hinhalten und ihn fragen: „Schämst du dich nicht, du Heuchler?“

Man möge mir verzeihen, aber manchmal, wenn irgendein Querulant in meinem Berufsstand plötzlich die Luft bei uns so unerträglich findet, daß er sie angeblich nicht mehr atmen kann, dann überlege ich, wie anders er wohl sein könnte, befänden sich in seiner Schreibtischschublade ebenfalls zwei solche gezackte Stahlscherben, von denen er weiß, daß sie eigentlich ihn hätten töten sollen. Die Geisteshaltung des einen wird eben von Stahlsplittern geprägt, die des anderen durch „Schönheiten“. –

Unlängst war ich von der FDJ Westberlins zu einem Forum über meinen Roman „Der Gaukler“ eingeladen: eine lebendige, hochinteressante Debatte mit jungen Menschen nicht nur über das Buch, sondern über Probleme des Sozialismus schlechthin, über das Verhältnis von Geist und Macht, über die künstlerische Freiheit, wie ein Sozialist sie versteht. Natürlich war auch hier – wie in allen öffentlichen Veranstaltungen der Linken in den freien Ländern des Westens – der Spitzel vom (BN)Dienst anwesend, diesmal offenbar mit dem Auftrag, nicht lediglich zuzuhören und zu berichten, sondern ein bißchen Dreck zu schleudern. Er tat es zunächst vorsichtig, mit der Frage, weshalb wir dem „mündigen Bürger“ nicht die Lektüre solcher Machwerke erlaubten, die von ihren Autoren unter Umgehung der Devisengesetze (nicht etwa der neuen, sondern der schon seit zwei Jahrzehnten bestehenden!) ins westliche Ausland lanciert und dort mit Riesenaufwand zu „großer Literatur“ aufgemotzt, zur Verleumdung der DDR und zur Verdummung der eigenen Bürger verwendet werden. Da mußte ich ihn belehren, daß wir so dumm nun auch nicht sind, uns nach allen einschlägigen geschichtlichen Erfahrungen heute noch aufschwätzen zu lassen, antisozialistische Pamphlete wären „geniale Produkte des freien Geistes“. Uns hat Dr. Goebbels genügt. Der Herr hüllte sich bis gegen Ende der Veranstaltung in Schweigen. Erst dann riskierte er seinen großen Auftritt. Er habe lange in der DDR gelebt, dort verfolge man Leute wie ihn, und übrigens sei die ganze kommunistische Literatur (einschließlich meines Buches) eben nur geistiger Terror, den die SED ausübe. Damit hatte er einen beachtlichen Lacherfolg, aber er genoß ihn nicht, er lief aus dem Saal, bevor ich ihm mein Bedauern über seine jämmerliche Existenz im „freien Westen“ absprechen konnte. Über seine Tragödie, die darin besteht, daß er sich einen ganzen Abend lang in eine Debatte über sozialistische Literatur setzen muß, die er nicht leiden kann. Und das nur, um sich einen Hundertmarkschein zu verdienen, mit ein paar vorgefertigten Sprüchen, daß die „DDR-Emigranten“ natürlich den Sozialismus viel besser managen würden, ließe man sie nur. –

Wachsendes Interesse für unsere Literatur

Er erinnerte mich an eine Diskussion, die ich im Frühjahr mit Lesern in Köln hatte. Dort gab es auch so ein Männlein, das ereiferte sich bis in die Nähe eines Infarktes darüber, daß ich nicht die Noblesse aufbrachte, einer Autorin, die nach Jahren großzügigster Förderung durch unseren Staat diesen plötzlich nicht mehr ertragen konnte, auch noch einen Blumenstrauß über die Staatsgrenze nachzuwerfen.

Ich bin in den vergangenen Monaten viel im Ausland gereist. Wo immer ich war, spürte ich, daß sozialistische DDR-Literatur auf wachsendes, respektvolles Interesse stößt. Das ist ein Warnzeichen für die Leute, die uns schon seit 30 Jahren unseren Untergang voraussagen, mit wechselnden Terminen. Und die nichts auslassen, uns zu schaden. Verständlich, daß es auch weiterhin nicht an Versuchen fehlen wird, doch wenigstens einen kleinen Teil der DDR-Literatur in antisozialistische umzufunktionieren und damit Reklamekampagnen für Desorientierte aufzuziehen, die der Waschmittelwerbung so ähnlich sind wie ihre Geldgeber.

Vietnamesen haben 30 Jahre lang mit der Waffe kämpfen müssen, bis der Imperialismus endlich unausweichlich vor der Einsicht stand, daß er verloren hatte. DDR-Bürger werden vermutlich noch lange Zeit dafür zu sorgen haben, daß unser Land seinen Weg in Frieden fortsetzen kann. Sofern wir sozialistische Schriftsteller sind, werden wir dabei nicht auf das Anraten der Leute hereinfallen, die uns gern mit ihren Mediengeschossen in die geistige Steinzeit zurückbombardieren möchten.

Wir sind zur entspannten, mit gegenseitigem Respekt geführten Diskussion über unsere Werke bereit. Nicht nur Bücher sind das - die ganze DDR ist ein Teil unseres Werkes. Man wird sich allerdings daran gewöhnen müssen, daß wir bei jeder noch so freundlichen Debatte unsere historische Aufgabe als Humanisten im Auge behalten: mit unserem Wort dafür zu sorgen, daß das verlogene Geschwätz unserer Gegner nicht wie ein Samtkissen über jene entsetzlichen Narben manipuliert wird, die von ihren eigenen unmenschlichen Taten zeugen.