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Das Harry Thürk - Fortsetzungsinterview

Da bis zum Tode Harry Thürks regelmäßig Leseranfragen im HTF eintrafen, war im Juli 2003 (v2.1) dieses Fortsetzungsinterview ins Leben gerufen worden. Hier finden Sie eine Auswahl der interessantesten Leserfragen an Harry Thürk. Im Mai 2006 (v5.4) wurden die letzten Fragen, die Thürk noch zu Lebzeiten schriftlich beantwortet hatte, veröffentlicht und das Interview endgültig eingestellt.
Übrigens: Eine Auswahl der Interviewfragen, sowie einige hier nicht veröffentlichte Texte, wurden Ende 2004 im Spotless-Verlag Berlin unter dem Titel "Treffpunkt Wahrheit" herausgegeben. Preis: €5,10.



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Herr H.R. in L.:
Im Rahmen meines Studiums hier arbeite ich an einer Abhandlung, die den Kalten Krieg zum Thema hat. In England findet man dazu eine große Menge erstklassiges Dokumentarmaterial. Bei einer Abgleichung mit deutschen Quellen fiel mir auf, dass der Kalte Krieg im zeitgenössischen Schrifttum kaum noch erwähnt wird. Mich würde interessieren, ob Sie eine Erklärung dafür haben...

Harry Thürk:
Lieber Herr R., Sie sind da auf ein Phänomen gestoßen, über das ich persönlich seit meiner Schulzeit immer wieder Veranlassung hatte, neu nachzudenken, nämlich dass historische Fakten mehr und mehr zum Verfügungsmaterial für politische Manipulationen der jeweiligen Regierung geworden sind. Ich skizziere Ihnen eine Auswahl:
1938/39, als Stalin sich mit Nazi-Deutschland auf "gute Nachbarschaft", d.h. die Teilung Polens, einigte, staunten viele Leute, denn bis dahin hatten Kommunisten und Nazis wie Feuer und Wasser gegeneinander gestanden. Nun wurden die deutschen Kommunisten zwar nicht aus den KZ's entlassen, aber der Führer der kommunistischen Weltbewegung war "ein Guter". Zeitweise. Die zeitgenössische Publizistik erinnerte sich einfach nicht mehr an all das was sie ihm vorgeworfen hatte.
Für die westlichen Demokratien war und blieb der Kommunismus das Schreckgespenst. Bis Hitler die Sowjetunion angriff. Da konnte man sich an den eigenen Antikommunismus nicht mehr erinnern, Stalin war Alliierter.
Das blieb so, bis der großdeutsche Faschismus besiegt war. Sogar zu völkerrechtlich gewagten Konzessionen war man bereit gewesen. Als aber plötzlich die roten Fahnen mit Hammer und Sichel an der Elbe erschienen, änderte sich das schlagartig. Der Schock bewirkte nicht nur eine erneute Belebung des publizistischen Antikommunismus' - es begann der Kalte Krieg, das unablässige listenreiche, keine Regel mehr einhaltende Dauergefecht gegen die "rote Weltgefahr". Mit der Alt-BRD als Frontstaat auf der einen Seite, und der DDR auf der anderen. Und der immer wieder in die Hirne der Alt-BRD-Deutschen gedroschenen Weisheit, die DDR sei ja gar kein Staat, was dort geschehe, entscheide einzig und allein die Sowjetunion. Und zwar gegen "unsere lieben Brüder und Schwestern".
Dieses änderte sich, als Gorbatschow das Sowjetsystem und die nutzlos gewordenen "Volksdemokratien" verhökerte. Da wurde Russland zur "sich entwickelnden Demokratie". Und als sich die Leute in der ehemaligen DDR gegen die Verschlechterung ihrer sozialen Lage zu wehren begannen, da hatte es laut neuer Publizistik den Vormund Sowjetunion nie gegeben, nur "ostdeutsche kommunistische Gewaltherrscher über einen Unrechtsstaat". Bis heute läuft das im Wesentlichen so: im Westen das Wirtschaftswunder und im Osten die von Ulbricht, Honecker und Genossen zu verantwortende Mangelwirtschaft. Kein Wort mehr von der Politik der Embargos, von der Co-Com-Liste und den unzähligen anderen Tricks, mit denen die DDR eingeschnürt worden war. Alles auf die Delegitimierung des unbequemen zweiten deutschen Staates abgestellt. Lügen durch Verschweigen. Der selektive Umgang mit historischen Fakten durch geübte Manipulatoren.
Ich will es hier mit meinen Denkanstößen erst einmal bewenden lassen, sie regen wohl hinreichend zum Weiterdenken an. Zum Schluss, Herr R., nur noch ein paar Bemerkungen über das von Ihnen festgestellte langsame Verschwinden des Kalten Krieges aus dem Geschichtsbild der letzten sechzig Jahre. Wir übersehen ja zuweilen, dass auch in der Politik oft eine Hand die andre wäscht. Da gibt es unseren Regierungschef, der seine Misserfolge in der Innen- und Sozialpolitik gern durch spektakuläre Siege in der Außenpolitik vergessen machen möchte. Ein Kunstgriff, der er nicht etwa erfunden hat, nein, der ist von Dutzenden von Vorgängern schon mit mehr oder weniger Glück praktiziert worden. Aber die konkrete Situation ist interessant: Deutschland soll in den Sicherheitsrat der UNO. Russland - eingedenk der deutsch-russischen Männerfreundschaft - befürwortet das. Aus Freude darüber können die deutschen Gutmenschen sogar vergessen, dass in Tschetschenien Krieg geführt wird. (Auch Amerikas Regierer vergessen das ja über ihrem menschenfreundlichen Engagement im Irak völlig!) Warum sollte man also vom heutigen obersten Repräsentanten Russlands verlangen, dass er sich mit der Rolle der Sowjetunion im Kalten Krieg auseinandersetzt? Wäre doch unbillig! Wo doch auch die USA dem Einzug Deutschlands in den Sicherheitsrat zustimmen. Allerdings eben mit dem berühmten kleinen Häkchen, das sie für solche Fälle immer bereit haben, nämlich dass Deutschland den Sicherheitsrats-Beitrag voll bezahlt, das Vetorecht aber nicht ausüben darf. -
Na, wenn man über einer solchen Konstellation nicht den ganzen Kalten Krieg vergisst! Einschließlich des hochpeinlichen Beschlusses, den der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, an jenem denkwürdigen 25.10.1989 verkündete: "Die kommunistischen Bruderparteien dürfen ab nun über ihren politischen Weg selbst entscheiden." Ja - durften sie denn das vorher nicht? Ulbricht und Honnecker hätten demnach die DDR nicht aus eigener Machtvollkommenheit zur Unrechtsdiktatur und zum Frontstaat des Kalten Krieges gemacht? Vorsicht, Vorsicht, am besten vergisst man diesen ganzen Komplex und spricht lieber über die Freundschaft des neuen Russlands zum neuen Deutschland. Belässt die Vergangenheit bei der bequemen, eingängigen Aufteilung Wirtschaftswunder contra Unrechtsstaat ohne Bananen und Ballermann. Und lobt die Sympathien des Moskauer Lupenreinen für Berlins Chefdarsteller. Nach vorn blicken, statt zurück!
Die neue russisch-deutsche Freundschaft, in deren Zeichen die Geschichte völlig neu geschrieben wird...
Mir bleibt da nur noch die Anregung, sich die kluge Feststellung de Gaulles in Erinnerung zu rufen, bevor eine Legion von Mietschwätzern sie unter ihren Honorarquittungen für immer begraben kann. De Gaulle sagte: "Staaten haben keine Freunde. Staaten haben Interessen."
Warum, lieber Herr R., schreiben Sie nicht Ihre Doktorarbeit über den selektiven Umgang der Politik mit den Realitäten der Geschichte?


Herr H.K.:
Wie stehen Sie zu einer eventuellen Verfilmung des Romans "Die Stunde der toten Augen"?

Harry Thürk:
1959 schrieb ich zusammen mit dem damaligen DEFA-Regisseur Herbert Ballmann für eine solche Verfilmung das Drehbuch "Haus im Feuer". Dei DEFA akzeptierte es, Ballmann begann mit der Arbeit. U.a. wurde Gisela Uhlen für die Rolle der Anna gewonnen. In die Arbeit hinein platzte dann ein von Moskau ausgesprochenes Verbot, den Film zu drehen: Die Haltung des sowjetischen Offiziers, der sich von einer deutschen Frau helfen lässt, und sein Verhalten gegenüber einem faschistischen Soldaten seien absolut unsowjetisch und dürften keine Publizierung erfahren. Ballmann verließ die DDR. -
Mein Roman hat die Zerstörungen zum Thema, die das Waffenhandwerk bei jungen, gutgläubigen Menschen in der Seele anrichtet. Dieses Thema besteht auch heute noch weiter. Es wird sich nicht erledigen, solange junge Männer (und auch Frauen) Kriegsdienst zu leisten haben.
In unserer gegenwärtigen Realität ist der Militärdienst von der sklavischen Staatsbürgerpflicht zum fragwürdigen "Job" geworden. Das hat, wie die Vorgänge in Guantanamo oder irakischen Gefängnissen zeigen, seine zerstörerischen Wirkungen auf die Seelen der Akteure keinesfalls beseitigt. Es hat sie nur mit wohlfeilen, beruhigenden Etiketten versehen. Dem Abziehbild "Menschenrechte".
Da ich nicht glaube, dass in der gegenwärtigen Situation, in der arbeitslose junge Leute im Waffendienst eine Beschäftigungsalternative sehen, und ihnen mit der giftigen Intensität verlogener Medienberieselung eingebläut wird, unter Waffen bis in den Hindukusch und etwa ein Dutzend anderer Gegenden der Welt zu ziehen, sei ehrenvoll, sehe ich keinerlei Chance, den Grundgedanken meines Romans in einem Film umgesetzt zu bekommen.
Aus diesem Grunde würde ich einer Verfilmung, die bestenfalls die Rahmenhandlung übernimmt, nicht zustimmen.


Herr S.U. in B.:
Ich habe in Erinnerung, dass Sie die EU positiv bewertet haben. Nun, nach dem Scheitern der Verfassung und dem Ärger über die Finanzen - wie soll es Ihrer Meinung nach weitergehen? Oder soll das ganze Vorhaben am besten eingestellt werden?

Harry Thürk:
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die originäre Idee vom Zusammenschluss der Länder unseres Erdteils auf politischem wie wirtschaftlichem Gebiet unverzichtbar ist. Eine Jahrhundertaufgabe, die nicht nur Kriege unmöglich machen wird, sondern auch spürbar mehr Wohlstand für alle bringen soll.
Allerdings: Gegen das, was in wenigen Jahren aus diesem Vorhaben gemacht wurde, bin ich ganz entschieden. Das "Nein" zu der kürzlich in Frankreich und Holland abgestimmten sogenannten Verfassung war nötig, um eine Entwicklung aufzuhalten, die den Europa-Gedanken mit Sicherheit töten würde. Nachdenken ist dringend nötig. Auch besonders in Deutschland, wo die Bevölkerung erst gar nicht nach ihrer Meinung befragt wurde, sondern das fragwürdige Dokument mit Hilfe der erprobten Fraktionsdisziplin fast unauffällig den Bundestag passierte.
Zu Ihrer Frage, wie es nun weitergehen soll, will ich Ihnen einige Bemerkungen übermitteln, wobei ich es Ihnen überlasse, sie in die richtige Abfolge zu bringen.
Unerlässlich scheint mir, dass vernünftige Europa-Befürworter sich endlich darüber klar werden, dass wir nicht einen Bundesstaat Europa realisieren können, wie ihn etwa die Verfassung juristisch zementieren sollte. Das ist in unserem Erdteil mit seinen vielen Nationalstaaten höchst unterschiedlicher Beschaffenheit und historischer Tradition einfach nicht möglich. Was wir schaffen können, ist ein Staatenbund mit stetig wachsenden politischen und wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten auf der Basis gegenseitigen Nutzens bei Wahrung größtmöglicher Vielfalt in der Lebenspraxis der Bevölkerung. Europa wird eine Gemeinschaft in Vielfalt sein, oder es wird gar keine Gemeinschaft werden.
Soeben höre ich, dass der polnische Präsident vorgeschlagen hat, die Bevölkerung aller europäischen Länder im Rahmen einer Volksabstimmung über Weg und Ziel der EU entscheiden zu lassen.
Höchste Zeit! Bisher haben sich zu viele Beamte fragwürdiger Eignung anmaßen können, hier zu schalten und zu walten. Womit ich bei meiner zweiten Bemerkung bin: das Personal, das Brüssels Euro-Amtsstuben füllt.
Neben den Leuten, die die Voraussetzungen haben, hier Verantwortung zu tragen, hat sich ein wahrer Wasserkopf von Postenjägern in der EU-Zentrale eingenistet. Ein Mann mit dem Talent für skurrile Wortbildungen nannte sie bitterböse "Eurokratische Regiersüchtige mit Null Sachkenntnis aber einer Unmenge spinnerter Ideen, die sie als EU-Vorschläge verkleidet lancieren und für die sie unter dem Heiligenschein christlich-abendländischer Leitkultur Gehorsam verlangen". Da gibt es unentwegt etwas zu regeln, zu normieren, einzuführen, abzuschaffen, zu reformieren, es wird "vorangetrieben", im Stil von Kuhhirten wohl, und es wird ohne Unterlass Integration verlangt, ziemlich drohend manchmal, denn "Integration" heißt eben, ohne Widerspruch "auf Vordermann mitlaufen". Basta!
Im Laufe der Jahre haben die Wasserkopf-Gestalten an den vernünftigen Europapolitikern vorbei auf diese Weise die unsinnigsten Einfälle zu europäischem Recht machen können. Ob es der Krümmungsgrad von Bananen ist, oder die Ladenöffnung, der Dosenpfand oder die Richtlinie für Seilbahnen - es sind insgesamt etwa 130 000 solche und ähnliche Richtlinien erlassen worden, die auf den verschiedensten Gebieten die verfassungsmäßigen Rechte der Mitgliedsstaaten außer Kraft setzen.
Der Anlauf, das mit der sogenannten Verfassung noch umfangreicher machen zu können, ist erst einmal gescheitert. Jetzt säuseln die Durchgefallenen, Europa sei doch "eine Schicksalsfrage" für Deutschland, was man als Demagogie abbuchen kann. Ernster ist das Gegrummel, das man da aus dem Hintergrund hört, und das Polen gilt, einem Land, das nicht zufällig seine nationalen Traditionen aufmerksam vor fremdem Zugriff schützt. Da ist zu vernehmen, nun ja ... diese Methode der polnischen Bauern, ihre Kühe per Hand zu melken, sei eben so ganz modern-europäisch-hygienisch nicht...
(Seit Jahrhunderten produzieren polnische Bauern auf diese Art köstliche Trinkmilch, von der Kinder groß und stark werden. Nun aber der versteckte Anwurf, sie hätten dreckige Finger?)
An anderer Stelle höre ich einen Brüsseler Beamten in der Debatte über Dienstleistungen flöten, es grause ihm, wenn er an die "Horden polnischer Klempner" (wörtlich!) denke, die nach Deutschland strömen. Ich erspare mir, das zu kommentieren, und ich will am Ende der Betrachtung über das Personal nur vermerken, dass die Mitgliedsländer aufhören müssen, unbequeme Spinner nach Brüssel "abzuschieben", wie das üblich geworden ist. 50 % der Beamten dort sind überflüssig. Die Mitgliedsbeiträge könnten leicht um 50 % gesenkt werden, wenn man den Wasserkopf beseitigt und die Europapolitik vom Kopf auf die Füße stellt, indem man, statt den Bürokraten Brüssels das Recht zu geben, sich ihre Operationsfelder zu wählen, die Parlamente der Nationalstaaten demokratisch entscheiden lässt, welche Kompetenz sie jeweils zu welchen Bedingungen an Brüssel abgeben. Statt sie heuchlerisch aufzufordern, "ihre nationalen Egoismen" abzuschaffen! Europa ist keine Sache, die im Schnellschuss zu erledigen ist, es ist eine Jahrhundertaufgabe. Sie erfordert nicht nur Geduld, sie ist auch nicht von einer Handvoll Klugschwätzer am Volk der Mitgliedsländer vorbei zu lösen. Versucht man das weiterhin, wird ein Misserfolg unvermeidlich sein.
Meine letzte Bemerkung gilt der fragwürdigen Achse Paris-Berlin-Moskau, die sich da herausgebildet hat, und die einerseits die Möglichkeiten der Einmischung für das angeblich "lupenrein demokratische", andererseits in Tschetschenien Krieg führende Russland in Brüssel schafft, im Gegeneffekt aber, was noch problematischer ist, für die NATO, Europas Streitmacht mit ihrer transatlantischen Prägung durch die Dominanz der USA, eine Situation heraufbeschwört, die erneut die Bündnisverpflichtung der BRD auf eine Weise zur Entscheidung stellt, der schon beim letzten Anlass, dem amerikanischen Irak-Krieg, kein deutscher Politiker gewachsen war. Eine allseits akzeptierte EU-Verfassung hätte dieses Problem angesichts von 150 atomaren Sprengsätzen, die auf US-Basen in der BRD lagern, gefährlich verstärkt. -
Nun hörte ich unlängst einen hohen deutschen Beamten in Brüssel, der ein Horror-Wandbild anlässlich des Scheiterns der Abstimmung entwarf. Deutschland würde mit der Globalisierung ohne die EU-Verfassung nicht zurechtkommen, es würde weder Arbeitsplätze noch weiteren Anstieg (!) der Binnenkonjunktur geben, vor allem aber würde Deutschland von aufstrebenden Ländern wie China oder Indien hoffnungslos "an die Wand gedrückt" werden. Man staunt, welche jämmerlichen Notlügen dazu herhalten sollen, das zu realisieren, was unser Oberpolitiker rundweg als Hauptanliegen anführte, nämlich über die EU-Verfassung das Recht der BRD zu sichern, "als stärkste Wirtschaftsmacht des Erdteils die Vormachtstellung auszuüben, die ihr gebührt." Er sprach sogar von "Führungsrolle".
Allein das erst einmal verhindert zu haben, ist Verdienst der französischen und niederländischen Wähler. Und wie dadurch ermutigt, hat Deutschland wenig später eines dieser neuen Wasserkopfprojekte der "Neuordnung" abgelehnt, die Schaffung des neuen Kfz-Führerscheins. Ich hoffe, dass diese Art nachzudenken und mit Vernunft zu handeln, sich fortsetzt. Damit wäre Europa gedient.


Herr We. in V.:
Russland hält dieser Tage in Königsberg, das heute Kaliningrad heißt, und woher meine Großeltern (Deutsche) kamen, Feiern ab, 750 Jahre nach der Gründung. Aber das war doch wohl eine deutsche Gründung, oder? Wieso feiern das dann die Russen?

Harry Thürk:
Selbstverständlich war Ostpreußen mit der Hauptstadt Königsberg eine deutsche Provinz, bis es nach dem 2. Weltkrieg von der Sowjetunion zur "Kriegsbeute" erklärt und die nördliche Hälfte annektiert wurde. Königsberg wurde in Kaliningrad umbenannt, alles was an die Zugehörigkeit zum deutschen Staat erinnerte, ausgemerzt. Selbst die Friedhöfe wurden "bereinigt". Deutsch beschriftete Grabplatten dienten zum Bau von Fundamenten (etwa für das Siegesdenkmal vor dem Königsberger Rathaus). Wenn sie aus wertvollen Steinen bestanden, wurden sie gegen Devisen ins Ausland verkauft.
Ich erkläre, dass ich nicht die Absicht habe, an der deutschen Verantwortung für den 2. Weltkrieg, für den industriell organisierten Mord an Polen, Juden und anderen "Gegnern", an der ganzen Summe von Grausamkeiten, die mit der von Deutschland betriebenen "Neuordnung Europas" einhergingen, auch nur die geringste Kleinigkeit zu leugnen oder gar zu verteidigen, wenn ich feststelle, dass bei den Gebietsverschiebungen im Osten, die mit dem Sieg der Alliierten einhergingen, auch mit der Annektion Ostpreußens, Regeln des Völkerrechts gezielt außer Acht gelassen wurden.
Diese territorialen Veränderungen, die Deutschland etwa ein Drittel seiner Landfläche kostete, haben eine andere geschichtliche Wurzel, und über die muss heute erlaubt sein, ohne Anspruch auf Veränderungen zu sprechen. Nur dann können wirklich alle Fakten des historischen Prozesses im Zusammenhang beurteilt werden, und wir können uns als Demokraten von den zum Schweigen gezwungenen Untertanen undemokratischer Zensursysteme unterscheiden. In diesem Sinne bitte ich zu verstehen, wenn ich jetzt auf das Jahr 1938 zurückgehe. Damals nämlich begann eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt heute in der nur schwer begreifbaren Feier findet, die ein Nachfolger des Strategen Stalin wohl im Wesentlichen für jene Landsleute in Szene setzt, die in ihm den würdigen Nachfolger sehen, obwohl er nicht müde wird, eine demokratische Zukunft für Russland zu beschwören.
Der gewiefte Taktiker Stalin sah 1938 die Zuspitzung des deutsch-polnischen Konflikts als Chance, eine alte eigene Rechnung mit Polen zu begleichen. "Gute Nachbarschaft" war sein Angebot an Hitler. Der stieg überraschend schnell ein, wollte er doch den Rücken frei bekommen für seine Rachepläne gegen die Demokraten des Westens. In Moskau wurde man sich ungewöhnlich schnell einig über eine Teilung Polens. Stalin wollte die polnische KP für den Coup engagieren, aber deren ZK lehnte das ab, worauf Stalin dessen führende Mitglieder zur "Beratung" nach Moskau einlud. Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurden sie erschossen. Die Kommunistische Internationale löste Polens KP auf.
Man einigte sich mit Hitler darauf, dass Moskau 180 000 km² ostpolnisches Gebiet erhielt, außerdem gestattete Hitler, dass die drei baltischen Staaten und ein Teil Rumäniens von der Sowjetunion annektiert wurden. Der Polenfeldzug, den beide Partner im September 1939 führten, beschloss die Abmachung und beflügelte Stalin auf dem Siegesbankett zu dem peinlichen Ausspruch, nun sei die sowjetisch-deutsche Freundschaft auch mit Blut besiegelt.
Aus den von der Sowjetunion annektierten Ostgebieten Polens werden nach der nunmehr schon dritten Aufteilung des Landes zwischen seinen beiden Nachbarstaaten sofort 600 000 Bürger nach Kasachstan deportiert. Etwa 150 000 kommen dabei um. 22 000 polnische Offiziere und Beamte werden - meist in Katyn - erschossen. Später werden noch einmal 60 000 Arbeiter und Soldaten deportiert. Als Hitler nach den ersten militärischen Erfolgen im Westen die Sowjetunion überfällt, den Blick auf deren Rohstoffe gerichtet und auf den von Deutschland angeblich benötigten "Lebensraum", wird Moskau schließlich zum Alliierten der Westmächte und zu einem der Sieger. Bei Krimwein und Kaviar setzt Stalin in Konferenz mit Roosevelt und Churchill durch, dass er den aus dem Geschäft mit Hitler stammenden Teil Polens behalten kann. Polen soll sich auf Kosten Deutschlands in dessen Ostprovinzen ausbreiten. Die Fläche beträgt 103 000 km². Den Beschluss fassen die Alliierten. Den Polen als Opfer der Aufteilung wird die Vertreibungsarbeit in direkter Konfrontation mit den Deutschen überlassen. Dies alles hinterlässt in Polen wieder einmal das Gefühl, von Moskau zutiefst unfair behandelt worden zu sein, zumal nun mit dem aus der Sowjetunion nach Lublin entsandten neuen, auf Stalin eingeschworenen ZK der KP eine Politik einzieht, die man als Vasallentum empfindet. Letztlich hat hier die Solidarnosc-Bewegung ihre Wurzel. Sie beendet die Etappe der "Volksdemokratie Polen", und es ist nur noch ein formaler Schlusspunkt, als der Sejm 1998 diese Art Kommunismus als "verbrecherisch von Anfang an" erklärt.
Polen hat von Moskau verlangt, dass es sich für das auf seine Kosten zwischen Stalin und Hitler gemachte Geschäft wenigstens offiziell entschuldigt. Aber weder Gorbatschow noch Jelzin haben darauf reagiert. Und der heutige Herr des Kreml, von einigen Leuten als "lupenreiner Demokrat" gepriesen, denkt gar nicht daran, historische Fehlleistungen auch nur einzusehen. Im Gegenteil, er gibt sich beleidigt, wenn auch nur jemand daran erinnert. So kam es, dass er zu der seltsamen 750-Jahresfeier des deutschen Königsberg, das er als "russische Exklave" bezeichnet, weder Polen noch die ebenfalls skeptischen baltischen Nachbarn einlud. Es blieb dem deutschen Kanzler vorbehalten, dem Ereignis so etwas wie internationales Flair zu verleihen. Vorsichtshalber wurde auch noch der französische Präsident bemüht, und so rückte wieder einmal die "Achse" ins Bild, was bei den skeptischen Nachbarn keinesfalls Beifall auslöste. Im Gegenteil. Daran änderte auch das betont zivile Verhalten des Franzosen nichts, von dem Beobachter berichteten, nach zwei Stunden, als seine Witze erzählt waren und er erfahren hatte, welche Garderobe die deutsche Kanzlergattin beim G8-Gipfel in Schottland tragen würde, wäre er wieder nach Paris entschwunden.
So vollführte denn der erfolglose deutsche Obermacker einen politischen Salto auf Stelzen, indem er seine Einladung zu der seltsamen russischen Feier der deutschen Stadtgründung als Beweis dafür anführte, dass die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland so gut seien wie nie zuvor. Das hört sich wie ein makaberer Scherz an. -
Die deutschen Medien veranstalteten aus der Sache einen hilflos anmutenden Seiltanz zwischen bemühter Pressefreiheit und Parteidisziplin, der jede kesse Bemerkung über die Rüpelei des Kreml-Herrn gegenüber seinen Nicht-Gästen ausschloss, die der deutsche Ehrengast nicht kommentieren wollte. Sein Glück. Trotzdem bescheinigte ihm ein von mir ab und zu mit Vergnügen gehörter britischer Rundfunk-Komiker, er habe durch seine bloße Teilnahme an der Königsberg-Kaliningrader Inszenierung erkennen lassen, dass er den historischen Horizont einer Blattlaus habe. Was nun wiederum ich nicht kommentieren möchte. -
Wie Sie sehen, Herr We., sind die Hintergründe und das Drumherum wieder einmal interessanter als der eigentliche Vorgang. Sollte ich zu ausführlich gewesen sein, in dieser Zeit, in der Wahrheit bei uns immer kostbarer wird, dann überlesen Sie hin und wieder ein paar Zeilen. Ich wünsche Ihnen dabei gute Unterhaltung.


Herr Fü. aus W.:
Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Forschungsarbeit hörte ich, dass an der Bauhaus-Akademie in Weimar eine neue Fakultät eingerichtet wird, die den Umgang mit Rauchmeldern und Nachtwächtern in feuergefährdeten musealen Sammlungen wie der Anna-Amalia-Bibliothek lehren soll. Können Sie das bestätigen?

Harry Thürk:
Lieber Herr Fü., ich entsinne mich noch Ihrer satirisch-bitteren Vorschläge zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Reduzierung der Anwärterzahl per Flächenbombardements menschenrechtlichen Charakters, die Sie mir vor einiger Zeit übermittelten, und die in meinem Buch "Treffpunkt Wahrheit" veröffentlicht wurden. Nun haben Sie diesmal eine der Unsäglichkeiten unserer heutigen Gegenwart aufgespießt, aus dem Lumpensack von kommunalem Filz, Korruption und gegenseitiger Vorteilsschieberei gegriffen. Ich fürchte, die von Ihnen erwähnte Fakultät wird es nicht geben. Im Zusammenhang mit hohen Beamtengehältern den Begriff Verantwortlichkeit auch nur zu erwähnen, wie es etwa beim Brand der Anna-Amalia-Bibliothek durchaus angebracht gewesen wäre, ist unfein; es würde mich nicht wundern, wenn es bald unter Volksverhetzung rangiert. -
Übrigens musste ich an Sie denken, als ich jetzt hörte, dass sich auch hohe Würdenträger der UNO daran beteiligen, die Moral endgültig zur Hure zu machen. Oder wie würden Sie als Satiriker das sonst bezeichnen, wenn so jemand, der eben noch vor Rechtschaffenheit förmlich triefend die Beseitigung des Schurken Saddam forderte, nachdem die USA ihn "besiegt" haben eiligst das Hilfsprogramm "Öl für Lebensmittel" ins Rollen bringt, um von den spendablen Lieferanten eine runde Million an Bestechungsgeldern zu kassieren, wie Herr Jakolew?
Raffgier, Heimtücke und Heuchelei, die zu Wesenselementen unserer Gesellschaft wurden, zeitigen zuweilen Unglaubliches. So bringt jemand einfach das Gerücht in Umlauf, der Germanistikprofessor an einer Universität habe früher Leute bei der Stasi denunziert. Beweise gibt es nicht, diese Enthüllungsbranche kann ja nur mit "ernstzunehmenden Hinweisen" dienen. Aber die Universität wirft den Professor sofort hinaus. Den Job bekommt einer der, wie man erfährt, schon seit einiger Zeit in den Startlöchern stand. -
In einer Kleinstadt Thüringens, so erzählt man mir, ist die Toilettenfrau des Rathaus-Aborts fristlos entlassen worden. Es wurde bekannt, dass sie vor etwa zwanzig Jahren als Toilettenreinigerin in der Stasi-Dienststelle gearbeitet hat. Damit ist die Tätigkeit in einem Rathaus heute unmöglich.
Sind das Beispiele für notwendige Aufarbeitung von persönlicher Schuld? Oder handelt es sich vielmehr um widerliches Zelotengehabe mit der Würde anderer Menschen als Spielmaterial? Es darf nicht übersehen werden, dass sich dies alles unter der Jurisdiktion der Alt-BRD vollzieht, die der DDR mit der Wiedervereinigung übergestülpt wurde. Zur Beurteilung der moralischen Legitimation dieser Alt-BRD ist hilfreich zu wissen, dass die offizielle Statistik beispielsweise noch 1958 im Bundeskriminalamt unter 47 leitenden Beamten 33 ehemalige SS-Führer ausmachte, 20 Hauptsturmführer und 2 Sturmbannführer.
Bundesrichter in Karlsruhe war um diese Zeit ein Herr F. M. (Name bei mir!), der während der Nazi-Besetzung der Tschechoslowakei allein an vier Todesurteilen gegen Tschechen mitwirkte, als Beisitzer. Und 1951 amtierte im Bundesverfassungsgericht als Richter noch der Herr W.G. (Name bei mir!), in der Nazizeit Staatsanwalt beim Sondergericht Bamberg, mit 5 Todesurteilen auf dem Konto...
Schlechtes Gewissen, das dazu drängt, an DDR-Bürgern die eigenen, so gern vertuschten Versäumnisse abzuarbeiten? Rechtfertigung vor sich selbst?
Ich mache ausdrücklich darauf aufmerksam, dass es sich bei den eben von mir erwähnten Beispielen nicht etwa um "ernstzunehmende Hinweise" von der Qualität jenes Drecks aus den Stasi-Müllsäcken handelt, sondern um offizielle statistische Angaben aus Alt-BRD-Behörden. Das darf in einer Zeit nicht verschwiegen werden, in der Denunziation in anderen Gesellschaftsordnungen nach Kräften begeifert wird, um dahinter verschwinden zu lassen, dass sie in der eigenen zum Kavaliersdelikt verkommt. Immer mehr dient sie der gezielten Verleumdung, dem Rufmord. Und sie bestätigt immer wieder eine Erkenntnis, die so alt ist wie die Kunst der Manipulation Argloser und Gutgläubiger, nämlich dass man Lügner nicht nur an dem erkennt, was sie sagen, sondern ebenso an dem was sie verschweigen.
Um noch einmal auf die von mir erwähnte Toilettenreinigerin zurückzukommen: es ist unveränderlicher Teil meiner Geisteshaltung, die Würde einer solchen Frau nicht um einen Deut geringer zu veranschlagen, als etwa die eines Staatsoberhauptes. Warum ich darauf aufmerksam mache? Nun, während der Zeit, als die Toilettenfrau bei der Stasi arbeitete, diente ein heutiges Staatsoberhaupt dem sowjetischen Geheimdienst KGB, gewissermaßen der Schöpferin der Stasi, von Dresden (DDR) aus als Führungsoffizier für Spione, die für Moskau in der Alt-BRD operierten. Ein Blick auf seine Karriere ist nicht ganz uninteressant, zumal es ja hauptsächlich ehemalige KGB-Leute sind, die heute Russlands Geschicke lenken. Angefangen hatte es vor etwa 16 Jahren, als ein bis dahin nicht sonderlich hervorgetretener Mann namens Gorbatschow von Andropow (ebenfalls aus dem Geheimdienst hervorgegangen) in die Funktion des Generalsekretärs im Kreml lanciert wurde. Die Betonköpfe der Nomenklatura waren mit ihrer eingefrorenen Politik am Ende. Das Land brauchte einen radikalen Umschwung. Und genau da kamen die exzellent ausgebildeten, psychologisch besonders geschulten KGB-Leute mit ihrem grenzenlosen Ideenreichtum ins Spiel, als Regierer des Landes. Gegen Angriffe von Alt-Stalinisten durch den allmächtigen Geheimdienst geschützt, etablierten sie zügig eine neue, von allen lästigen Verpflichtungen befreite, egoistische, zu Bündnissen selbst mit dem Teufel noch befugte Regierung, die im Grunde das alte System mit neuem Blut füllte, wie manche westeuropäische Illusionisten heute erst feststellen. Und mit neuen Gesichtern. Mit ungewohnten Vorgehensweisen verwirrten diese Kreml-Erben vor allem EG-Politiker der leichtgläubigeren Art, aber sie stellten ihre Taktik mit beeindruckender Präzision auf erkannte menschliche Schwächen solcher Leute ab, die ihnen den Weg an die Schaltstellen der Europapolitik ebnen konnten. Das geschah wahlweise mit Doktorhüten, Eintragungen in Goldene Bücher und ähnliche "Ehren", aber auch mit demonstrativen "Freundschaften", deren Glanzlichter dann die Anreise ganzer Balalaika-Orchester mit Glenn-Miller-Programm und Donkosakenchören mit deutsch gesungenen bräunlich-germanischen "Volksliedern" von der sturmfesten und erdverwachsenen Art waren: Maut auf dem Weg vom östlichen Endpunkt der neuen "Achse" an die Schalthebel in Brüssel? Was sonst? Eitelkeit und übersteigertes Geltungsbedürfnis werden von Geheimdiensten in aller Welt skrupellos genutzt, wenn sie bei ihren Zielpersonen ausgemacht sind. Ich finde, die cleveren KGB-Leute, die uns das heute im eigenen Hof vorexerzieren, sind dafür nicht einmal besonders zu schelten - sie tun, was sich ihnen anbietet! Erinnern wir uns also an die Toilettenreinigerin, die ich in die Betrachtung einbrachte. Im Jargon der aus der Alt-BRD zu uns im Osten gekommenen professionellen "Aufarbeiter" und "Bewältiger" steht wohl hinter ihrem Namen auf Lebenszeit: "... war bei der Stasi." Wogegen über den Herrn Führungsoffizier der sowjetischen Alt-BRD-Spionage die im 98 % aller Medien gleichlautende Charakterisierung unnachahmlich indifferent lautet: "Der Präsident arbeitete auch eine Zeit lang in Dresden."
Die Toilettenfrau und der Agentenführer. Dass die Sache bei uns so läuft, kann man feststellen, mehr nicht. Da sind politische (teils eben auf ausgenutzter Eitelkeit oder zweckmäßiger Männerfreundschaft beruhende) Manipulationen im Spiel, wie sie, wenn sie in Diktaturen auftreten, bei demokratischen Journalisten völlig zutreffend als Einschränkung der Pressefreiheit bezeichnet werden. Umso mehr befremdet es, wenn gerade diese Botschafter des freien Wortes heute in seltener Einigkeit die Formel vom "in Dresden tätig Gewesenen" nachlabern und dabei offenbar nicht einmal Scham empfinden. Ist das nur Angst vor dem blauen Brief? Oder wovor sonst?
Spielwiese für Satiriker, Herr Fü.!

P.S.: Die Gründung von Fakultäten in Sachen Rauchmelder und Nachtwächter bei der Anna-Amalia-Bibliothek ist überholt: in der heutigen Lokalzeitung (Medienholding der SPD) lese ich, dass neue Untersuchungen geführt werden sollen. Da wo das Feuer entstand, hat gar kein Elektrokabel gelegen, also auch keins von schlechter DDR-Qualität. Stattdessen kommt jetzt der aus Wänden austretende Schwamm in Verdacht, er soll in der Lage sein, solche Brände zu verursachen. Ob das nur für DDR-Schwamm zutrifft, wird die Untersuchung (hoffentlich) klären. Auf jeden Fall wird sie erweisen, dass die Verantwortlichen keine Schuld trifft.
Und da kann ich Sie, Herr Fü., nur ermuntern: ermitteln sie weiter mit! Wenn Sie Hausschwamm haben, versuchen Sie mal, ihn zum Brennen zu bringen...

In meiner Nähe dudelt ein Radio vor sich hin. Wenn ich soeben recht gehört habe, hat sich ein Wissenschaftler gemeldet, der ein Gutachten darüber anbietet, dass die Proletarisierung in der DDR zu Veränderungen des Hausschwammes führte, die eine Selbstentzündung bewirken. Über den Preis des Gutachtens wird noch verhandelt...
Ein Schuft, wer Böses dabei denkt!


Herr W.S. in Z.:
Ich bin empört. Künftig soll jeder Schnüffler mein Sparbuch kontrollieren können. Ist dagegen noch etwas zu machen, oder ist das der Weg zum Gläsernen Menschen?

Harry Thürk:
Er ist es. Und zu machen ist dagegen nichts mehr. Die Mehrheit der Bürger hierzulande hat sich damals, als der Heilsbringer in Moskau mit seinem "Glasnost"-Rummel die Auflösung der unzulänglich gewordenen globalen Vereinigung von "Arbeitnehmern" betrieb, dafür entschieden. Mithin für "Glasnost". Das praktiziert nun die Internationale des Großkapitals, und gegen die gibt es - außer folkloristisch anmutenden Demonstrationen - kein Mittel. Der gläserne Mensch war von jeher der Wunschtraum dieser sogenannten Wirtschaftselite. Sie bekommt ihn jetzt, und zwar mit begeisterter Zustimmung aller Nutznießer.
Der allseits beliebte Glasnostifikator selbst wurde vom Leben nicht bestraft, sondern belohnt, zumal er es schaffte, zur Auktion des Staatssystems, als dessen Chef er einst gewählt worden war, in Washington nicht zu spät zu kommen. -
In unser aller Interesse, Herr S., hoffe ich, dass sich die Mehrheit der glasnostfreudigen Deutschen nicht etwa eines Tages noch für eine Lichtgestalt entscheidet, die weit unangenehmere Dinge ins Rollen bringt, als nur den Durchblick auf Sparbücher. Es tut mir leid, wenn sich das ein bisschen zynisch anhört, aber in unserer neuen Realität gibt es Erscheinungen, die klingen umso zynischer, je zurückhaltender man sie darzustellen versucht.


Herr S.O. in E.:
Jeder Tag bringt einen neuen Korruptionsskandal unter Politikern. Ich stelle mir immer öfter die Frage: In was für einem Land leben wir eigentlich? Sie auch?

Harry Thürk:
Gewissenhafte Historiker haben vor sehr langer Zeit schon den Lobbyismus als eine Erbkrankheit der Demokratie bezeichnet. In meinem Urteil hat diese Erbkrankheit unter den Bedingungen der letzten 15 Jahre in Deutschlandden Charakter einer Seuche angenommen. Die Frage, in was für einem Land wir leben, habe ich selbst mir seitdem nicht nur einmal gestellt.
Und doch, lieber Herr O., leben wir in einer "sowohl-als-auch"-Gesellschaft. Denn neben den Korrumpierbaren gibt es eben immer wieder die Anständigen unter den Politikern. Wie in jedem anderen Berufsstand. Wenngleich ich nicht im Traum daran denke, das alte, weise Wort "Geld verdirbt den Charakter" zu ignorieren. Jene Politiker übrigens, deren Anständigkeit über die Verlockung siegt, die vom Wähler verliehene Macht zugunsten der eigenen Brieftasche zu missbrauchen, erkennt man gelegentlich daran, dass sie nicht alle drei Tage einen Reporter zu sich rufen, um in sein Mikrofon zu labern, wie sehr etwas sie begeistert oder bedrückt hat. Es kann ganz unterhaltsam, Minister einmal darauf zu beobachten...
A propos Unterhaltung: Nun hat die Korruption, wie man pausenlos in die Ohren geblasen bekommt, also auch die nationale Ikone Fußball erreicht. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass die verdeckte Münze vor absolut keinem Berufsstand Halt macht, dann ist dies einer. (Über "Gutachter", angeblich neutral urteilende "Sachverständige", "unabhängige Meinungsäußerer" und ähnliche Mietschwätzer, die den Leuten für entsprechende Gegenleistung aufreden, Ondraschek wäre der Erzbischof von Olmütz gewesen und Hotzenplotz der Bürgermeister, wollen wir lieber gar nicht reden!)
Also der Fußball! Und als mir ob der neuen Hiobsbotschaft gerade ein guter Freund des rollenden Balles am Telefon das Bekenntnis gemacht hatte, er glaube von nun an, was andere schon länger glaubten - nämlich dass "der Mensch ein bekleidetes Schwein sei, das Mathematik kann" - kam ich beim Erneuten Hören der Meldung im hiesigen Info-Radio plötzlich über eine Weisheit ins Grübeln, die gerade ein "Sachverständiger für die DDR" abspulte, den man in Bielefeld ausfindig gemacht hatte. Danach wäre die Rate der Korruptionsfälle "im Osten" ganz besonders hoch, verglichen mit dem übrigen Deutschland. In den kommunalen Dienststellen könne man ein Lied davon singen, aber z.B. auch im Bildungswesen sei die Verbreitung unglaublich stark...
Ich suchte solange, bis ich eine Statistik gefunden hatte, die es über die Besetzung leitender Stellen gibt, die als Anlaufpunkte für Korruption zu werten sind. Und da war sie wieder, die abgelutschte Legende vom gierigen, bestechlichen, durch Jahrzehnte Unfreiheit verdorbenen Osten. Dummfrech gelogen. Denn Zahlen sprechen ihre eigene Sprache.
Ich wähle das Beispiel Brandenburg.
In der Landesverwaltung dieses "Ost"-Landes sind an Importen aus Alt-Bundesländern tätig:
79% aller Staatssekretäre
80% aller Abteilungsleiter
68% aller Referatsleiter
77% aller Richter an Landgerichten
80% aller Richter an Verwaltungsgerichten
100% aller Richter an Landesarbeits- und Landessozialgerichten.
Für das Bildungssystem sind 72% aller Universitätsprofessoren "Westimporte".
Und das ist in der Vorstellung des Herrn Sachverständigen aus Bielefeld die Korruptionsbasis des Ostens! Urteilen Sie selbst, Herr O., welche aberwitzigen Wege die gezielte geistige Fehlorientierung da geht!

P.S.: Eben lese ich, dass die Seuche der Korruption zugunsten persönlicher Bereicherung inzwischen sogar die UNO erreicht hat. Von etwa 65 Milliarden $ ist die Rede, die aus dem Programm der Hilfslieferungen für die irakische Bevölkerung verschwunden sind. Mit Wissen des dafür verantwortlichen höchsten UNO-Beamten...
Ich schlage Ihnen vor, Herr O., ändern Sie Ihren Stoßseufzer um ein Wort ab. Fragen Sie: "In was für einer Welt leben wir eigentlich?"...


Herr H. Sch. in G.:
Ich lese in der hiesigen Presse, das jetzt in Russland aufgetauchte Rubens-Gemälde "Tarquinius und Lucretia" sei nach dem 2. Weltkrieg nach Russland verbracht worden. Hat die DDR Kunstwerke dorthin geliefert?

Harry Thürk:
Lieber Herr Sch., "verbracht" ist eine dieser auf Schonung des staatlichen Verhältnisses zielenden Höflichkeitsformulierungen. Es müsste natürlich heißen: "Das Gemälde wurde gestohlen.", und zwar aus dem Schloss Sanssouci. Offenbar ist es später "privatisiert" worden. Das kann man daraus schließen, dass es jetzt von einem Privatmann zum Kauf angeboten wird, die zuständigen Behörden aber gleichzeitig erklären, es sei nicht beabsichtigt, das Bild an Deutschland zurückzugeben. So ähnlich wurde ja auch in vergleichbaren Fällen mit sogenannter "Beutekunst" verfahren. Sie wurde, um jegliche Ansprüche von vornherein aussichtslos zu machen, einfach zu "Staatseigentum" erklärt.
Gelegentlich hört man von unseren superklugen Gutmenschen, man solle das alles doch bitte im Lichte der Wiedergutmachung von Schäden sehen, die deutsche Truppen im 2. Weltkrieg in der Sowjetunion anrichteten. Bei uns in der DDR hörte man diese Entschuldigung vierzig Jahre lang, vom zweiten Eisenbahngleis über Betriebsverbringungen, sogenannte SAG's (sowj. AG's), Entnahmen aus der laufenden Produktion, Vorkaufsrechte, Uranerz-Abbau... die Aufzählung könnte weitergehen. Bei allen diesen Praktiken fehlte nie die Begründung der Wiedergutmachung. Nun würde kein anständiger Mensch in Deutschland - DDR oder West - geleugnet haben, welche riesigen Schäden Hitlers Überfall in der Sowjetunion anrichtete. Der gute Wille, das gutzumachen, soweit es möglich ist, war immer da. Er ist auch heute durchaus noch lebendig. Nur wird er im wachsenden Maße davon beeinträchtigt, dass auch die neue, angeblich demokratische Regierung Russlands sich nicht endlich von der fragwürdigen Praxis trennt, alles mögliche zu fordern und zu vereinnahmen, aber jegliche Abrechnung darüber zu verweigern. Besonders bei Kunstgegenständen führt das heute selbst in Kreisen gutwilliger Leute zu wachsenden Irritationen. Zumal ja gerade in solchen Fällen wie dem Rubens-Gemälde und seinem privaten "Besitzer" jeglicher Bezug zur Wiedergutmachung von Kriegsschäden trotz größter Nachsicht nur noch als faule Ausrede gewertet werden kann. -
Wie Sie vielleicht wissen, ist eine Konferenz, die sich mit vernünftigen Regelungen in Sachen "Beutekunst" im Oktober '04 in Weimar beschäftigen sollte, kurzfristig abgesagt worden. Es bestand nicht die geringste Aussicht, auch nur zu einer gemeinsamen Sprache zu kommen. -
Aus meiner Zeit als DDR-Bürger erinnere ich mich an eine Antwort, die ich im hiesigen Delikat-Laden einmal bekam, als ich nach einem bestimmten Artikel fragte, und nach dem "Ham wa leider nich", ein Wort riskierte, auf das die Verkäuferin offenbar trainiert war, denn sie verriet mir über das ganze Gesicht grinsend: "Jaja, es ist eben nicht so einfach für die DDR, auch noch eine Großmacht mit zu versorgen!"
Ich will Ihnen andeuten, dass wir "Ossis" an diesen Kummer gewöhnt sind. Nach der Vereinigung lernen nun Sie als "Alt-BRD-Bürger" diese ziemlich komplexe Problematik auch kennen. Der Rubens wird nicht die letzte Erfahrung sein, die Sie da machen. Das sage ich Ihnen ohne Schadenfreude voraus. Im Gegenteil. Ich bin immer wieder böse darüber, dass ausgerechnet aus Moskau in dieser Weise die Propaganda der deutschen Nazis unterstützt wird. Hätten wir eine Außenpolitik, die so gut ist wie die Selbstdarstellung des betreffenden Ministers, dann würde sie Wege finden, den Herren in Moskau zu der Einsicht zu verhelfen, wem hier fröhlich in die braunen Hände gearbeitet wird. Aber so...
... werden wir, lieber Herr Sch., wohl in nächster Zeit das nächste einschlägige Erlebnis haben.


Herr Br. F. in E.:
Die NPD verbieten? Oder nicht? Bei 10% Wählern in Sachsen eine heikle Sache. Wie stehen Sie dazu?

Harry Thürk:
Mir wäre schon 1% zuviel. Ich habe als Schulkind erlebt, wie die Nazis 1933 an die Macht kamen, und ich kann es bis heute nicht gutheißen, dass man in der BRD unter Verweis auf eine "freiheitliche Verfassung" dieser menschenfeindlichen Bande nach dem unmissverständlichen Urteil von Nürnberg erneut gestattete, sich zu organisieren.
Die Partei ist die eine Sache. Verbot - ja. Aber das eigentliche Problem ist, dass man hier eine Gesinnung bekämpfen muss. Ausrotten. Denn die funktioniert auch ohne Partei. Vor allem wenn der Abbau des Sozialwesens und die durch steigende Arbeitslosigkeit beförderte allgemeine Verunsicherung und Einschränkung der Lebensverhältnisse weiterhin den idealen Nährboden dafür schaffen. Und wenn jeder intelligente Einwurf in die Debatte sogleich dafür dient, dass die Gegenpartei den betreffenden Sprecher persönlich diffamiert und zum Symbol für Unzulänglichkeit im Denken und Handeln darstellt. Zu dieser Praxis gehören etwa solche Prädikate wie "Realitätsverlust" (ein geschickt verfremdeter Hinweis auf alzheimersche Demenz) oder "Büttenrede", wie man es erst kürzlich erleben konnte. Das genau ist der Nährboden für die Primitivparolen der Nazis. Sie nennen es "Parteiengezänk", und das kommt leider an. So war das in meiner Erinnerung auch 1932/33. Und ich höre schon die heuchlerischen Proteste, dass man das doch nicht vergleichen kann.
Man soll nicht vergleichen oder sich dem Vergleich verweigern - man soll nachdenken! Über die Geschichte und ihre Wege in der Vergangenheit! Und man sollte sich als Demokrat schämen, wenn man auf jede Bemerkung, die einem nicht passt, eine Horde von "Kampfjournalisten" loslässt, um die Macht des eigenen Medien-Imperiums zu demonstrieren, seine "Vordermann"-Verlässlichkeit, den "Schulterschluss", die "Tuchfühlung" und wie alle diese Attribute genannt werden, hinter denen der Blaue Brief steht, als letztes Wort der politischen Hegemonie.
Einen Lichtblick gibt es, das sind die Aktivitäten des Innenministers zur Veränderung des Rechts auf Versammlungsfreiheit. Es soll so verfasst werden, dass die Organisatoren der Neonazi-Politik es nicht länger für ihre Zwecke missbrauchen können.
Vielleicht erhält ja der Rat der Stadt Weimar, wo ich wohne, die Chance, Demonstrationen faschistischer Gesinnung in der Stadt, zu deren Namen außer klassischer deutscher Kultur der von Buchenwald gehört, grundsätzlich zu verbieten. Ich würde das, obwohl ich sonst von Verboten nichts halte, als einen Beweis der Stärke und Entschlossenheit der Demokratie werten.


Herr I.G. aus E.:
Ich nehme an, Sie haben das Wahltheater um die Landeschefin in Schleswig im TV miterlebt. Ein Komiker spottete darüber: "Die Ministerpräsidentin klebt an ihrem Job wie Hundesch***e an einer Schuhsohle."
Was für einen Eindruck hat die Vorstellung in Kiel auf Sie gemacht?

Harry Thürk:
Einen schlechten. So sieht Parteidisziplin bis zum bitteren Ende aus!
Was das Gleichnis des Komikers mit den Hundefäkalien betrifft, so lehne ich derlei ab. Es mag Ihnen altmodisch erscheinen - ist es auch - wenn ich sage, dass ich es einer Frau gegenüber ungehörig finde, mit einem solchen Vergleich zu operieren. Außerdem fallen mir, wennes um das Festklammern an politischer Macht geht, Leute in unserem Lande ein, an denen sich das sehr viel deutlicher und abstoßender demonstrieren ließe. Immerhin war die Dame in Kiel weder durch Korruption noch durch Verwicklung in andere Skandale nennenswert bekannt - beinahe eine Rarität in unserer Polit-Landschaft. Aber ein Komiker ist eben kein Diplomat. -
Zum Vergleich: Als der heutige Herr Außenminister an dieses Amt noch nicht dachte, und als er noch nicht ahnte, dass der heutige Kanzler einmal sein Chef werden könnte, ließ er über den und sein Verhältnis zu Macht folgende scherzhaft gemeinte Betrachtung ab: "Wenn die Mehrheit es morgen erfordert, dass er sich zu Kaiser Wilhelm stilisiert, würde er sich einen wunderbaren Zwirbelbart zulegen. Und wenn es notwendig wäre, als bayerischer König Ludwig II ins Kanzleramt zu kommen, würde er im Starnberger See schwimmen und einen Schwan küssen."
Die Schuhsohle mit dem Hundeschiss kann man darüber doch glatt vergessen; als geistlose Pöbelei, verglichen mit penetranter diplomatischer Infamie. -
Ganz am Rande vermittelt das Wahltheater von Kiel übrigens die Erkenntnis, dass persönliche Anständigkeit und mehr oder weniger begeistert ausgeübte Parteidisziplin einander keinesfalls grundsätzlich ausschließen (wie es etwa "Aufarbeiter" der DDR-Geschichte erfunden haben, um die Sache zu vereinfachen). Wie man verfolgen konnte, zeitigt Parteidisziplin in der deutschen Demokratie der Gegenwart selbst bei persönlich integren, intelligenten Leuten gelegentlich Verhaltensweisen, die eher Feldwebeln anstünden, die ja ohnehin seit geraumer Zeit mit dem, was sie für Politik halten, bei "Vordermann", "Schulterschluss", "Tuchfühlung" und ähnlichen militanten Weisheiten angekommen sind. ("Stellung halten?")
Wer über Kiel nachdenkt, Herr G., über die Ministerpräsidentin, die Schuhsohle und den Hundedreck, der sollte ruhig auch daran mal einen Gedanken verschwenden!


R.W. in St.:
In Kürze werden unsere Bankkonten laut Gesetz überwacht werden können. Darf das in einer Demokratie gemacht werden?

Harry Thürk:
Was in unserem Land gemacht werden darf und was nicht, entscheiden die gegenwärtig regierenden Politiker.
In der DDR hat sich die Administration nicht getraut, diese Stufe der Schnüffelei zu besteigen. Die Maßnahme fügt sich in das System der Kontrolle der Bevölkerung, die auf diversen Gebieten bereits unter den verschiedensten "Begründungen" ausgebaut wurde.
Dieser Tage nannte das ein Leitartikler einer hiesigen Zeitung "... das Feigenblatt der Terrorbekämpfung und der angeblichen Steuerehrlichkeit ...". Der Mann hat Mut. Einer der wenigen in seiner Branche. Die meisten Medien ziehen es vor, lieber zwölfmal täglich über die Magensonde einer unglücklichen amerikanischen Komapatientin zu berichten, oder über die Plünderer in Kirgisien. Das ist zwar für den deutschen Bürger höchst nebensächlich, aber es füllt Nachrichtensendungen auf sehr schön ablenkende, unverbindliche Art.
Nun fehlt nur noch Gorbatschow, der den Kanzler küsst und ihm dazu gratuliert, dass er die Glasnostifizierung auf die Höhe ihrer eigentlichen Zweckbestimmung gehoben hat, rechtzeitig, nicht zu spät, und dass er so die Bestrafung durch das Leben vermeiden konnte!


Herr Zw. in H.:
Der Kanzler sagte gestern, dass man für das Geld, das der Irak-Krieg gekostet hat, viele gute Dinge hätte tun können. Halten Sie das schon für Wahlpropaganda?

Harry Thürk:
Ich habe den Ausspruch auch gehört und war überwältigt. Habe nur die Gegenfrage: "Ist er ganz allein darauf gekommen? Oder der Redenschreiber?" In jedem Falle offenbart sich hier denkerischer Tiefsinn, wie man ihn nur selten findet!
Und weil wir schon bei den Aussprüchen berühmter Leute sind: aus Russland hörte ich, Gorbatschow hatte eine sehr strenge Mutter, und musste z.B. immer ganz pünktlich zum Essen erscheinen. Nun weiß ich endlich, wo das Jahrhundertwort "Wer zu spät kommt, den bestraft die Köchin!" seinen Ursprung hat!


Herr S. Ta. in W.:
60 Jahre Befreiung. Sie haben die Zeit vorher sogar noch erlebt. Haben die Feiern Ihre Gefühle getroffen?

Harry Thürk:
Ich hätte mich auch ohne Feiern daran erinnert, wie froh ich über das Ende des Krieges war. Und dass ich ihn überlebt hatte.
Was die zentrale Feier in Moskau betrifft, die ja durch direkte und indirekte Regierungspropaganda zum Spitzenereignis gemacht wurde, so hat sie meine Vermutungen über die Rolle, die Russland in der EU zu spielen beabsichtigt, voll bestätigt. Da wurde klipp und klar die neue Achse Berlin-Paris-Moskau vorgeführt, besonders in der Bildübermittlung: Frankreichs Präsident, Russlands Präsident, Deutschlands Kanzler.
Was ihn anging, so geriet die Sache teilweise buchstäblich zur Schmuseveranstaltung. Es war ja vorher schon signalisiert worden, Deutschland brauche des 2. Weltkriegs wegen nicht auf ewig "... Asche auf sein Haupt streuen ...".
Nach meinen historischen Kenntnissen begann der 2. Weltkrieg mit den Überfällen von zwei Staaten auf Polen. Am 1. September 1939 griff Hitler an, und am 17. September Stalin. Nach Erreichung der jeweiligen "Interessenlinie" teilten die beiden Staaten Polen unter sich auf. Stalin entwickelte damals keine persönlichen Beziehungen zu Hitler; er beließ es dabei, auf dem Siegesempfang in Moskau mit dem Nazi-Außenminister Ribbentrop anzustoßen und ihm dabei zu gestehen, er sei glücklich darüber, "... dass die deutsch-sowjetische Freundschaft nun auch mit Blut besiegelt worden sei ...".
Da es sich dabei ja um polnisches Blut gehandelt hat, meist jüdisches, suchte ich auf den Bildern, die vom 60-Jahres-Fest aus Moskau um die Welt gingen, nach einem Gast Polens in der Runde der illustren Persönlichkeiten. Fehlanzeige - ich konnte keinen entdecken. Und natürlich war das kein entschuldbares Versehen, sondern nüchtern kalkulierte Absicht: Das heutige Russland denkt nicht daran, dem heutigen Polen Rechenschaft über das abzulegen, was vor 60 Jahren geschah! Es denkt auch nicht daran, sich dafür zu interessieren, welche Gefühle die Annektion der baltischen Staaten mit all ihren Folgen bei den dortigen Bürgern hinterlassen hat, deren demokratische Repräsentanten deshalb nicht an der Feier teilnahmen.
Da blieb dann eben hauptsächlich der neue Schmusefreund Deutschland, und der ist ja soooo dankbar für jeden fotogen präsentierten "Beweis" von Weltgeltung...
Das sind meine Gefühle beim Ansehen dieser Veranstaltung gewesen, Herr Ta.; indem ich sie Ihnen schildere, hoffe ich, dass vernünftigere Staatsmänner eines Tages doch wieder ehrlicher mit den Realitäten der Geschichte umgehen werden.


Frau K. in G.:
Ich bin seit Jahren arbeitslos (Köchin). Glauben Sie, dass mir die von der Regierung durchgesetzte Offenlegung der Managergehälter zu einem Arbeitsplatz verhilft?

Harry Thürk:
Nein. Diese mit viel Schaumschlägerei geforderte "Offenlegung" bringt niemandem etwas. Sie schadet auch den Managern nicht, denn deren Bezüge werden von den Unternehmen festgelegt, und "Offenlegungen" treffen hier auf eine Abgebrühtheit von Format: man tut nichts, das gegen das Gesetz wäre, wenn man einen Firmenzweig nach dem anderen in Billigstlohngebiete verlegt (Jargon: ins "Indianer-Country"), und so die Arbeitslosigkeit in Deutschland weiter erhöht.
Die Verlegung ist im Gegenteil offiziell und im Sinne der Globalisierung sogar verdienstvoll und wird belohnt: der betreffenden Firma werden die Kosten der Verlegung vom Staat erstattet. Darüber schlägt die deutsche Mediensippschaft weit weniger Schaum als über die "Offenlegung" von Bezügen, mit der lediglich Unmut abgelenkt werden soll, in ungefährliche Bahnen.
Die Globalisierung, jener Jahrhundertsieg der Hochfinanz, mit seiner Lobby, die von der UNO über die Weltbank, den Europarat bis in Berliner Abgeordnetenbüros reicht, ist die tiefere Ursache dafür, dass Menschen bei uns arbeitslos sind. Sie hat die Großunternehmer von jeglicher Verpflichtung nationaler Art befreit und damit einen ihrer kühnsten Träume verwirklicht. Dass dies in Deutschland unter der Regierung von "Linken" geschah, sorgt zusätzlich für Ironie, ebenso wie das publikumsgezielte Gesäusel, die Unternehmer möchten doch bitte Patrioten sein, was wohl als Rechtfertigung für die Regierenden dienen soll. In diesem Sinne zielt es direkt auf Sie, Frau K., als Arbeitslose, und soll Ihren Unmut von den wahren Ursachen ablenken. (Soeben wird bekannt, dass deutsche Firmen und Privatbesitzer im 1. Quartal '05 einhundertfünfzig Milliarden Euro ins Ausland transferierten, doppelt soviel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Da haben Sie gleich noch den Reflex auf die jüngste bürgerrechtsfeindliche Maßnahme der deutschen Innenpolitik, die Abschaffung des Bankgeheimnisses.)
Ganz schlaue Mietschwätzer, liebe Frau K., wollen Ihnen ja weismachen, die "Offenlegung", die Sie bitte unterstützen möchten, diene "den einfachen Leuten", nämlich den Aktienbesitzern, die so kontrollieren könnten, ob sich Manager am Ertrag ihrer Aktien bereicherten. Kennen Sie einen Arbeitslosen mit Aktienbesitz? Ich nicht.
Ich rate Ihnen, sich nicht vom PR-Schaum der Globalisten beeindrucken zu lassen. Wenn der nächste Herr "Spezialist und Wirtschaftssachverständige" sich im Fernsehen zwecks Unterstützung der "Offenlegung" und der Sparbuchschnüffelei an Sie wendet - sehen Sie sich den Mann, der da seinen akademischen Grad für verdummendes Geschwafel zu klingender Münze macht, genau an: was Arbeitslosigkeit bedeutet, das interessiert den einen Dreck!