|  Harry Thürk:Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die originäre Idee vom Zusammenschluss 
        der Länder unseres Erdteils auf politischem wie wirtschaftlichem 
        Gebiet unverzichtbar ist. Eine Jahrhundertaufgabe, die nicht nur Kriege 
        unmöglich machen wird, sondern auch spürbar mehr Wohlstand für 
        alle bringen soll.
 Allerdings: Gegen das, was in wenigen Jahren aus diesem Vorhaben gemacht 
        wurde, bin ich ganz entschieden. Das "Nein" zu der kürzlich 
        in Frankreich und Holland abgestimmten sogenannten Verfassung war nötig, 
        um eine Entwicklung aufzuhalten, die den Europa-Gedanken mit Sicherheit 
        töten würde. Nachdenken ist dringend nötig. Auch besonders 
        in Deutschland, wo die Bevölkerung erst gar nicht nach ihrer Meinung 
        befragt wurde, sondern das fragwürdige Dokument mit Hilfe der erprobten 
        Fraktionsdisziplin fast unauffällig den Bundestag passierte.
 Zu Ihrer Frage, wie es nun weitergehen soll, will ich Ihnen einige Bemerkungen 
        übermitteln, wobei ich es Ihnen überlasse, sie in die richtige 
        Abfolge zu bringen.
 Unerlässlich scheint mir, dass vernünftige Europa-Befürworter 
        sich endlich darüber klar werden, dass wir nicht einen Bundesstaat 
        Europa realisieren können, wie ihn etwa die Verfassung juristisch 
        zementieren sollte. Das ist in unserem Erdteil mit seinen vielen Nationalstaaten 
        höchst unterschiedlicher Beschaffenheit und historischer Tradition 
        einfach nicht möglich. Was wir schaffen können, ist ein Staatenbund 
        mit stetig wachsenden politischen und wirtschaftlichen Gemeinsamkeiten 
        auf der Basis gegenseitigen Nutzens bei Wahrung größtmöglicher 
        Vielfalt in der Lebenspraxis der Bevölkerung. Europa wird eine Gemeinschaft 
        in Vielfalt sein, oder es wird gar keine Gemeinschaft werden.
 Soeben höre ich, dass der polnische Präsident vorgeschlagen 
        hat, die Bevölkerung aller europäischen Länder im Rahmen 
        einer Volksabstimmung über Weg und Ziel der EU entscheiden zu lassen.
 Höchste Zeit! Bisher haben sich zu viele Beamte fragwürdiger 
        Eignung anmaßen können, hier zu schalten und zu walten. Womit 
        ich bei meiner zweiten Bemerkung bin: das Personal, das Brüssels 
        Euro-Amtsstuben füllt.
 Neben den Leuten, die die Voraussetzungen haben, hier Verantwortung zu 
        tragen, hat sich ein wahrer Wasserkopf von Postenjägern in der EU-Zentrale 
        eingenistet. Ein Mann mit dem Talent für skurrile Wortbildungen nannte 
        sie bitterböse "Eurokratische Regiersüchtige mit Null Sachkenntnis 
        aber einer Unmenge spinnerter Ideen, die sie als EU-Vorschläge verkleidet 
        lancieren und für die sie unter dem Heiligenschein christlich-abendländischer 
        Leitkultur Gehorsam verlangen". Da gibt es unentwegt etwas zu regeln, 
        zu normieren, einzuführen, abzuschaffen, zu reformieren, es wird 
        "vorangetrieben", im Stil von Kuhhirten wohl, und es wird ohne 
        Unterlass Integration verlangt, ziemlich drohend manchmal, denn "Integration" 
        heißt eben, ohne Widerspruch "auf Vordermann mitlaufen". 
        Basta!
 Im Laufe der Jahre haben die Wasserkopf-Gestalten an den vernünftigen 
        Europapolitikern vorbei auf diese Weise die unsinnigsten Einfälle 
        zu europäischem Recht machen können. Ob es der Krümmungsgrad 
        von Bananen ist, oder die Ladenöffnung, der Dosenpfand oder die Richtlinie 
        für Seilbahnen - es sind insgesamt etwa 130 000 solche und ähnliche 
        Richtlinien erlassen worden, die auf den verschiedensten Gebieten die 
        verfassungsmäßigen Rechte der Mitgliedsstaaten außer 
        Kraft setzen.
 Der Anlauf, das mit der sogenannten Verfassung noch umfangreicher machen 
        zu können, ist erst einmal gescheitert. Jetzt säuseln die Durchgefallenen, 
        Europa sei doch "eine Schicksalsfrage" für Deutschland, 
        was man als Demagogie abbuchen kann. Ernster ist das Gegrummel, das man 
        da aus dem Hintergrund hört, und das Polen gilt, einem Land, das 
        nicht zufällig seine nationalen Traditionen aufmerksam vor fremdem 
        Zugriff schützt. Da ist zu vernehmen, nun ja ... diese Methode der 
        polnischen Bauern, ihre Kühe per Hand zu melken, sei eben so ganz 
        modern-europäisch-hygienisch nicht...
 (Seit Jahrhunderten produzieren polnische Bauern auf diese Art köstliche 
        Trinkmilch, von der Kinder groß und stark werden. Nun aber der versteckte 
        Anwurf, sie hätten dreckige Finger?)
 An anderer Stelle höre ich einen Brüsseler Beamten in der Debatte 
        über Dienstleistungen flöten, es grause ihm, wenn er an die 
        "Horden polnischer Klempner" (wörtlich!) denke, die nach 
        Deutschland strömen. Ich erspare mir, das zu kommentieren, und ich 
        will am Ende der Betrachtung über das Personal nur vermerken, dass 
        die Mitgliedsländer aufhören müssen, unbequeme Spinner 
        nach Brüssel "abzuschieben", wie das üblich geworden 
        ist. 50 % der Beamten dort sind überflüssig. Die Mitgliedsbeiträge 
        könnten leicht um 50 % gesenkt werden, wenn man den Wasserkopf beseitigt 
        und die Europapolitik vom Kopf auf die Füße stellt, indem man, 
        statt den Bürokraten Brüssels das Recht zu geben, sich ihre 
        Operationsfelder zu wählen, die Parlamente der Nationalstaaten demokratisch 
        entscheiden lässt, welche Kompetenz sie jeweils zu welchen Bedingungen 
        an Brüssel abgeben. Statt sie heuchlerisch aufzufordern, "ihre 
        nationalen Egoismen" abzuschaffen! Europa ist keine Sache, die im 
        Schnellschuss zu erledigen ist, es ist eine Jahrhundertaufgabe. Sie erfordert 
        nicht nur Geduld, sie ist auch nicht von einer Handvoll Klugschwätzer 
        am Volk der Mitgliedsländer vorbei zu lösen. Versucht man das 
        weiterhin, wird ein Misserfolg unvermeidlich sein.
 Meine letzte Bemerkung gilt der fragwürdigen Achse Paris-Berlin-Moskau, 
        die sich da herausgebildet hat, und die einerseits die Möglichkeiten 
        der Einmischung für das angeblich "lupenrein demokratische", 
        andererseits in Tschetschenien Krieg führende Russland in Brüssel 
        schafft, im Gegeneffekt aber, was noch problematischer ist, für die 
        NATO, Europas Streitmacht mit ihrer transatlantischen Prägung durch 
        die Dominanz der USA, eine Situation heraufbeschwört, die erneut 
        die Bündnisverpflichtung der BRD auf eine Weise zur Entscheidung 
        stellt, der schon beim letzten Anlass, dem amerikanischen Irak-Krieg, 
        kein deutscher Politiker gewachsen war. Eine allseits akzeptierte EU-Verfassung 
        hätte dieses Problem angesichts von 150 atomaren Sprengsätzen, 
        die auf US-Basen in der BRD lagern, gefährlich verstärkt. -
 Nun hörte ich unlängst einen hohen deutschen Beamten in Brüssel, 
        der ein Horror-Wandbild anlässlich des Scheiterns der Abstimmung 
        entwarf. Deutschland würde mit der Globalisierung ohne die EU-Verfassung 
        nicht zurechtkommen, es würde weder Arbeitsplätze noch weiteren 
        Anstieg (!) der Binnenkonjunktur geben, vor allem aber würde Deutschland 
        von aufstrebenden Ländern wie China oder Indien hoffnungslos "an 
        die Wand gedrückt" werden. Man staunt, welche jämmerlichen 
        Notlügen dazu herhalten sollen, das zu realisieren, was unser Oberpolitiker 
        rundweg als Hauptanliegen anführte, nämlich über die EU-Verfassung 
        das Recht der BRD zu sichern, "als stärkste Wirtschaftsmacht 
        des Erdteils die Vormachtstellung auszuüben, die ihr gebührt." 
        Er sprach sogar von "Führungsrolle".
 Allein das erst einmal verhindert zu haben, ist Verdienst der französischen 
        und niederländischen Wähler. Und wie dadurch ermutigt, hat Deutschland 
        wenig später eines dieser neuen Wasserkopfprojekte der "Neuordnung" 
        abgelehnt, die Schaffung des neuen Kfz-Führerscheins. Ich hoffe, 
        dass diese Art nachzudenken und mit Vernunft zu handeln, sich fortsetzt. 
        Damit wäre Europa gedient.
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