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Das Harry Thürk - Fortsetzungsinterview

Da bis zum Tode Harry Thürks regelmäßig Leseranfragen im HTF eintrafen, war im Juli 2003 (v2.1) dieses Fortsetzungsinterview ins Leben gerufen worden. Hier finden Sie eine Auswahl der interessantesten Leserfragen an Harry Thürk. Im Mai 2006 (v5.4) wurden die letzten Fragen, die Thürk noch zu Lebzeiten schriftlich beantwortet hatte, veröffentlicht und das Interview endgültig eingestellt.
Übrigens: Eine Auswahl der Interviewfragen, sowie einige hier nicht veröffentlichte Texte, wurden Ende 2004 im Spotless-Verlag Berlin unter dem Titel "Treffpunkt Wahrheit" herausgegeben. Preis: €5,10.



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Herr W.R. in M.:
Neuwahl! Wird nun alles besser?

Harry Thürk:
Ich spüre in Ihrer Frage eine leichte Portion Ironie, Herr R.; wenn ich mich nicht irre auch Skepsis. Falls das Ihre innere Haltung zu dem jüngsten Manöver unserer Regierer nach dem Reinfall bei der NRW-Wahl ist, ähnelt sie der meinigen.
Im Jargon der PR-Manipulierer nennt man das, was da gemacht wurde, je nach subjektiver Sprachtradition "offensiv bleiben angesichts einer Niederlage" (Militärjargon), "Frontseite optisch beherrschen" (Parteijournalisten) oder "ganz schnell neuen Ton angeben" (Psycho-Manipulierer). Diese sogenannte Überraschung war auf jeden Fall ein taktischer Schachzug. Er kann nach Erledigung der dafür verfassungsrechtlich nötigen Voraussetzungen zur Neuwahl führen, muss aber nicht. In jedem Falle, und das ist die Zielrichtung, steht der Kanzler demonstrativ im Vordergrund des Interesses und verdrängt nicht nur die Wahlniederlage in NRW; er kann sich auch als verkannter Wohltäter darstellen, wenn es eine vorgezogene Bundestagswahl geben sollte: Siegt er mit seiner Partei und dem Koalitionspartner, dann hat "das Volk" im letzten Augenblick doch noch das Richtige getan und seine Rolle als sozialer Retter anerkannt; fällt er samt seinen Mitmachern durch, dann geht er als tragischer Held in die Geschichte ein, de das Beste versuchte, nur dabei vom dummen Volk nicht begriffen wurde. Er opferte sich für sein Land auf. Das war in Deutschland schon immer eine beliebte Art der Selbstdarstellung.
Was ich durch die aggressive Fehlorientierungspropaganda der Regierer schimmern sehe, ist dieses Szenario, dessen Grundgedanke mir zu sein scheint, das föderative Element, auf dem die Bundesrepublik verfassungsgemäß gründet, zu "reformieren", weil der Einfluss der beiden herrschenden Parteien des Berliner Bundestages in den Ländern nahe Null ist. Die letzten Kommunalwahlen in Kiel und NRW haben erneut bestätigt, dass dort, wo Politik den Sorgen der Bürger am nächsten ist, die rot/grüne kaltschnäuzige Abzocke im Interesse der "Wirtschaft" nicht geht. Deshalb sollen föderative Strukturen samt Bundesrat "verändert" werden. Modernisiert, sprich: den Bedingungen der Berliner Regierenden endlich angepasst. Bisher ist man damit nicht so recht vorangekommen. Daher läuft jetzt der ultimative große Schlag an. Der Chef gibt vor, das Handtuch zu werfen vor dem Kleingeist der "Provinzpolitiker". Er bittet die Runde seiner Pöstchenhalter in Berlin um das Misstrauensvotum. Da werden die sich aber hüten, denn denen ist das Diäten- und Rentenhemd näher als der Reformrock. Also kein Misstrauen für den Chef, im Gegenteil. So dass da ein strahlender Held herauskommt, von den gewählten Abgeordneten des Volkes eindeutig in seiner Politik bestätigt, nur vom "verkarsteten, dringend reformbedürftigen föderativen Vergangenheitsplunder" in seinem wohltätigen Handeln immer wieder sabotiert: Das eine abschaffen, den anderen bejubeln! Es leben Hartz und Agenda! Es leben Sozialabbau und Rentenkürzungen, teuer werdende Gesundheit und geschlossene Schulen! So geht das, Herr R.
Ich glaube, auf Neuwahl werden Sie eine Weile warten müssen. Auf "alles besser" noch länger. Und wenn ich mich mit meiner Vermutung geirrt haben sollte, würde ich sehr staunen...


D.M. in D.:
Wie stellen sie sich die Gesellschaft vor, die zu erstreben sich lohnt? Offensichtlich sind Sie weder vom Kommunismus stalinistischer noch maoistischer Prägung angetan. Zum Sozialismus in der DDR haben Sie, soweit ich das überblicken kann, nach der Wende noch keine konkrete Stellungnahme bezogen. Den Kapitalismus kritisieren Sie - zu recht, wie ich meine - aufs schärfste. Wie aber sollte die Gesellschaft Ihrer Meinung nach aussehen?
Ich bin überzeugt, der Kapitalismus - in welcher Form auch immer - ist eine völlig inakzeptable und sich selbst zerstörende Gesellschaftsstruktur. Andererseits bin ich im Zweifel, ob der Kommunismus jemals wieder eine echte Chance hat - die Mehrheit der Menschen wird nie freiwillig auf etwas verzichten, das sie woanders bekommen könnte (und sei es so etwas Primitives wie Bananen oder Actionfilme).
Wie sehen Sie das?

Harry Thürk:
Nein, Herr M., ich habe kein Muster für eine absolut ideale Gesellschaftsordnung sozusagen in der Westentasche. Auch auf die vielen Nebenfragen habe ich keine schlüssigen Antworten, aber ich kann Ihnen erklären, weshalb mir das so geht. (Und wohl nicht nur mir, sondern einer Menge Leute, die sich nicht von einer unerfüllbaren Illusion zur anderen quälen, sondern das nüchterne Denken über die realen Grundlagen politischer Vorgänge vorziehen.)
Wir haben in dem Teil Deutschlands, in dem ich lebe, ziemlich verlogene politische Verhältnisse: Klagt einer darüber, dass er seit Jahren arbeitslos ist, was ihm zu DDR-Zeiten nicht passieren konnte, so wird er eilfertig als "DDR-Nostalgiker" verhetzt, in hartnäckigen Fällen "... verteidigt er eine Unterdrückungsgesellschaft", und zuletzt kann natürlich noch die Keule aus der Sammlungsbehörde des Stasi-Mülls ausgepackt werden.
Hingegen: Lästert er laut, es habe ja in dieser DDR nicht mal Bananen gegeben (und vergisst er dabei Embargo und Boykott der Ostmark!), dann ist das die Ankunft in der wahrhaften deutschen Demokratie. Ob das der Demokratie zu mehr Ansehen verhilft? Fraglich!
Verdrängen und Hinzulügen sind Methoden, die ich persönlich nicht für geeignete Etiketten einer Demokratie halte. Und das gilt nicht nur für deutsche Verhältnisse. Es sind globale Unsitten in ihrer deutsch-mickrigen Abart. Aber da sind wir beim Problem.
Globalität: Das internationale Großkapital und die Hochfinanz haben mit diesem süffigen Schlagwort erreicht, dass große Teile der arglosen Nickemännchen und -weibchen in aller Welt die Entbindung der Geldaristokratie von jeglicher Art nationaler Verpflichtung auch noch mit Beifall begrüßten.
Seitdem führt die letzte verbliebene Atomweltmacht ihre humanistisch garnierten, nichtsdestotrotz absolut völkerrechtswidrigen Kriege im Interesse ihrer Machterweiterung auf eine Weise, dass man zögert, an die einschlägigen historischen Beispiele zu erinnern. Und die deutsche Regierung, in der Jacke der "europäischen Bündnisfähigkeit" muss ihrer Bevölkerung eine Belastung nach der anderen aufbürden, weil Europa in der globalen Abstufung die Aufgabe zufällt, überall dort die Folgen dessen zu beseitigen, was die USA in ihren Demokratisierungs- und Erdölbeschaffungsfeldzügen hinterlassen, auf dem Balkan, in Afghanistan, im Irak... Zu den Lügen über die Atombombenlabors in den Hindukusch-Höhlen, über die friedliche albanische Minderheit, deren Kinder von den Serben gegrillt werden, oder die Massenvernichtungswaffen Saddams kommen die neuen deutschen, über die Verteidigung der BRD am Hindukusch, über die Pflicht der Arbeitslosen, ihr Schicksal geduldig zu tragen, als vaterländische Pflicht, weil man ja die Industriellen unterstützen müsse, damit sie global richtig wirken können. Export-Weltmeister werden, und was ähnliche Meriten mehr sind, für die sich ein Arbeitsloser oder Rentner nichts kaufen kann ... und ... und ... und ...
Lieber Herr M., ich könnte noch eine Weile weiter aufzählen, wie das vermeintliche Zuckerbrot der Globalisierung den vorherigen durchaus nicht idealen Zustand ganz entscheidend zuungunsten der minder bemittelten Leute verändert hat. Und in dieser neuen Machtlage, die auf einen Knopfdruck der Weltbeherrscher hin jegliche unerwünschte Entwicklung per "Militärschlag" in Trümmer bomben und für die Europäer zum Aufräumen hinterlassen kann, versagt meine Fähigkeit, mir eine mögliche Gesellschaftsordnung auszudenken, die meine volle Zustimmung hätte, eben ohne die Gefahr eines "Militärschlags". Das wird Sie möglicherweise nicht befriedigen. Es befriedigt mich selbst auch nicht. Aber ich bin immer nur ein Beobachter politischer Entwicklungen gewesen, kein Polit-Akteur. Und das bleibe ich auch. Und schüttle den Kopf über Politiker, die mich für so dumm halten, dass ich ihnen glaube, sie erwarten von ihren Appellen zu mehr Patriotismus tatsächlich ein "Umdenken" des global befreiten Großkapitals. Ich warte auf den Tag, an dem mir nicht aus der Morgenzeitung schon ein Gemisch von Lügen über "Wirtschaftserholung durch Ärmelaufkrempeln aller" (Arbeitslosen?) und eine satte Auswahl von korrumpierten Politikern vor Augen führt, in welcher Gesellschaft ich lebe.
Solange das so ist, Herr Mayer, werde ich Ihre Frage(n) nicht beantworten können. Leider. Und jeden, der Ihnen erzählt, er habe das Patentmodell, mit dem alles geregelt werden könne, man müsse ihn nur wählen, den sollten Sie äußerst kritisch betrachten. Ich kann Ihnen nämlich voraussagen, was er, nachdem sein fünfstelliges Monatssälar als Politiker läuft, zur Entschuldigung vorbringen wird: "Nun ja, da gibt es eine Menge hochkomplizierter Einzelfragen zu diskutieren, aber ich bin überzeugt, wir sind auf dem richtigen Weg. Und wenn wir zusammenrücken, auf Tuchfühlung gehen, und ... und ... und ..."
Jawohl, Herr Feldwebel! fällt mir dazu nur noch ein. Die US-Supermacht hält für jedes Land, das ihr nicht zu Diensten ist, das Prädikat "Böse" bereit, zusammen mit der Beschuldigung "Terrorismus" und letztlich den Vernichtungsfeldzug.
Die europäische Machtkombination Deutschland/Frankreich ist emsig bemüht, dass in unserem Erdteil alles "auf Vordermann" bleibt, wobei sie sich der Unterstützung Russlands sicher sein kann. Für die Imagination einer besseren Gesellschaftsordnung ebenfalls kein Nährboden.
Ich bitte um Verständnis, wenn ich mich auf dem Gebiet der Illusionen nicht betätige. Deutschland hat eine demokratische Gesellschaftsordnung, das entspricht dem Willen der Bevölkerungsmehrheit. Eine solche Gesellschaft lebt davon, dass die Bürger den Regierenden sagen, was sie an deren praktischer Politik akzeptabel finden und was nicht. Im Zusammenhang damit wird bei mir immer öfter ein Verdacht bestärkt, den ich auch Sie einmal zu durchdenken bitte: Solange es auf jeden kritischen Einwand eines intelligenten Bürgers an teils hirnlosen Maßnahmen nichts weiter gibt, als den nassforschen Widerpart: "Haben Sie eine bessere Lösung?", traue ich diesen "Volksvertretern" nicht. Es gibt keinerlei Verpflichtung für einen Kritiker, sogleich mit besseren Lösungen aufzuwarten. Das zu verlangen, ist ein fauler Trick. Er trifft sich mit den sehr persönlichen Interessen solcher "Pattex-Politiker" wie jener Dame im Norden, bei der allein die Andeutung, sie könne abgewählt werden, schon zu dem öffentlichen Schreckensruf führte: "Und wo bin ich dann..?" Ähnliches trifft auf den Minister zu, der im Amt Schäden anrichtete, für die er in jeder Bananenrepublik gefeuert worden wäre: Machterhalt um jeden Preis. Das liest sich so: "Wenn ich überlege, was auf uns alles zukommt, dann mache ich weiter!" Unentbehrlich?
Im Radio kann man jeden Morgen eine Meldung über den korrupten Politiker des Tages hören. Heute war es ein Landrat in unserer Nähe. Siebenstellige Summe veruntreut...
Und das, lieber Herr M., lässt mich manchmal denken, es ist gar nicht die Gesellschaftsordnung, die uns zu schaffen macht - es ist vielmehr das Personal, das ihre Schalthebel bedient. In Amerika ist es jedenfalls so, dass die Demokratie der Vereinigten Staaten sehr viel besser ist als das, was die gegenwärtigen Regierer aus ihr machen. Ich glaube, bei uns auch...
Betrachten Sie die Sache einmal im Lichte dieser Überlegungen, vielleicht ergibt sich da für Ihre Frage nach der idealen Gesellschaft ein völlig neuer Aspekt.


Herr S.U. aus N.:
Ich habe gehört, gegen Gorbatschow gäbe es in Russland ein Gerichtsverfahren. Wissen Sie Näheres?

Harry Thürk:
Was Sie hörten, bezieht sich höchstwahrscheinlich auf den Antrag zur Einleitung eines Strafverfahrens vom Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation 1992.
Die Anklagepunkte waren "Besonders schwere Staatsverbrechen nach §64 (Vaterlandsverrat), §69 (Sabotage), §70 (Verbreitung von Lügen zur Untergrabung der Staatsmacht) und §79 (Besonders schwere Verbrechen gegen andere Staaten der Werktätigen)".
Die Jelzin-Administration setzte die Verhandlung gegen die insgesamt drei Angeklagten - Michail Gorbatschow, Eduard Schewardnaze, und Alexander Jakowlew - unbefristet aus.
Nachfolger Putin veranlasste nichts in der Sache und lehnte es ab, sich dazu zu äußern.


Herr W.S. in G.:
Sozusagen als eine der ersten Amtshandlungen ist der eben gewählte neue Präsident der Ukraine schon dabei, die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine einzufädeln. Ich meine, der sollte jetzt andere Sorgen haben. Wie denken Sie darüber?

Harry Thürk:
Ich denke auch, er sollte andere Sorgen haben. Aber hinter diesem Wahltheater, das über alle Nachrichtenstrecken der Welt gratis verblasen wurde wie Staubzucker, stecken eben ein paar Realitäten, die oft übersehen wurden. Die GUS, mit der wenigstens der Territorialbestand der einstigen SU über den Ausverkauf gerettet werden sollte, hat sich praktisch aufgelöst in Mini-Staaten, die ihre eigenen Geschäfte mit der westlichen Hochfinanz machen. Geblieben ist das Kerngebiet Russland, dessen Präsident zähneknirschend zusehen muss, wie in seinen letzten Domänen "Bürgerrechtsbewegungen" organisiert werden, die sie aus Russlands Machtbereich endgültig lösen. Letztes Beispiel war die Ukraine.
Eine in vielerlei Hinsicht aufschlussreiche Inszenierung: Orangen-Revolution. Da hockten Tausende bei Kältegraden auf dem nackten Boden, aber sie waren bei ihrer "Sitzdemo" blendend versorgt, mit wärmenden Decken, Verpflegung, heißen Getränken - selbst für die bei einem solchen wochenlangen Massenauflauf anfallenden Fäkalien war eine regelmäßige Abfuhr organisiert! Und das in einem Land, in dem sonst die primitivsten Dinge nicht klappen. Das kostet Geld. Eine Menge Geld. Und in dieser Hinsicht sind die USA und die EU leistungsfähig, wie wir ja wissen (weil die Gelder schließlich aus unseren Steuern kommen, und aus unseren abgebauten Sozialleistungen).
Der Präsident Rest-Russlands ist, was Geheimdienstmanipulationen angeht, erfahren genug, um zu begreifen, welches Spiel da läuft. Wie zum Hohn erwartet man, dass er dafür auch noch Beifall spendet, als "lupenreiner Demokrat". Er tut das nicht. Klagt die OSZE (Organisation für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa) an, sie würde vorwiegend im Osten Europas Menschenrechtsfragen bearbeiten. Russland als einer der größten Beitragszahler fühle sich da veralbert und werde seine Beiträge kürzen - eine hilflose Geste. Das Spiel ist längst gelaufen...
Für den neuen ann in Kiew gäbe es selbstverständlich vordringlichere Probleme als den Beitritt zur NATO. Aber so ist das Leben: der Herr der Orangen-Revolution macht jetzt die Bekanntschaft mit der weniger farbigen, dafür aber absolut unumgänglichen Realität solcher Prozesse: Wer die Musik bezahlt, der bestimmt, was gespielt wird!

P.S.: Dass es sich bei der Bezahlung von Orangeschals, Fähnchen, Kerzen, Decken, heißen Tee bis hin zur Fäkalienabfuhr nicht etwa um Geschenke handelt, wird erst nach und nach erkennbar werden. Im laufenden Prozess würde es den Demo-Eifer dämpfen, das wäre ungünstig. Aber sobald das Ziel erreicht ist, die neue Freiheit damit beginnt, dass das Öl in die gewünschte Richtung fließt und die Stichwortrufer sich in den solide finanzierten Ruhestand verkrümelt haben, ändert sich das natürlich... ("...wir haben ja jetzt völlig andere Verhältnisse..."). Dann wird neu versteuert und gespart, werden "Opfer" verlangt. Winkfähnchen oder Orange-Schals finden sich hier und da noch als Nostalgie-Souvenirs, doch der Ruhm der sanften Revolution verblasst recht schnell im Scheinwerferlicht der neuen Realitäten...
Und da, lieber Herr S., hat man dann auch neue Sorgen, die einen selbst überraschen. Auch die sanfte Revolution mit Hilfe der freien westlichen Welt hat eben ihre Regeln!


Herr S.W. in E.:
Die neue US-Außenministerin hat in der ersten Rede sechs Länder als gefährlich gekennzeichnet. Sie seien "Vorposten der Tyrannei". Was halten Sie von dieser Einstufung?

Harry Thürk:
Nichts. Dass sich die Bush-Leute dummfrech in die Angelegenheiten anderer Länder einmischen, kennt man. Es ist Ausdruck ihrer Vorstellung, Polizist der Welt zu sein. Ich fühle mich von keinem der sechs Länder, die die Dame nannte, bedroht. Hingegen finde ich es angebracht, einmal daran zu erinnern, dass die USA mit ihren 290 Millionen Einwohnern jährlich allein für militärische Rüstung 2,9 Milliarden Dollar ausgeben. Das ist mehr als die Einwohnerzahl von Europa, Russland, China, Indien und aller afrikanischen Länder zusammen. Dazu erübrigt sich ein Kommentar. Denn wir wissen inzwischen natürlich, dass "gefährlich" nur Staaten sind, die den USA nicht dienstbar sein wollen. Wenn sie deren Spiel mitmachen hingegen, dürfen sie sogar Atomwaffen besitzen...
Fräulein Rice, die neue Außenministerin von Herrn Bush, hätte lieber eine Stunde Klavier spielen sollen, als diese Rede zu halten!


Herr S.B. in V.:
Ich habe "Der Untergang" gesehen. (Bin Jahrgang 1980.) Sie haben die Zeit miterlebt - ist die Darstellung historisch korrekt?

Harry Thürk:
Den Film habe ich leider nicht gesehen, Herr B., und ich gestehe Ihnen, mein Bedarf an Hitler ist seit längerer Zeit gedeckt. Da gibt es nichts Neues mehr, nur noch immer von Anfang an wieder durchgekauten Brei aus Halbwahrheiten und "künstlerischer Phantasie". Ich glaube nicht, dass man als junger Mensch daraus noch Erkenntnisse über die reale Geschichte gewinnen kann.
Als einer, der die Zeit miterlebt hat, in der Hitler mit seinen Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kam, halte ich es z.B. für kompletten Unsinn, dass man im Zusammenhang mit dem Film wieder einmal die abgelutschte Frage "Mensch oder Monster?" in die Debatte lanciert. Wen soll denn entlasten, dass etwa ein "Monster" ihn mit überirdischen Einflussfähigkeiten dazu brachte, den Nazis nachzulaufen?
Selbstverständlich war Hitler ein Mensch! Und zwar einer mit ganz bestimmten, benennbaren Fähigkeiten, von denen man die meisten getrost kriminell nennen darf. Außerdem zeugt es von einer bestürzenden Unfähigkeit, in historischen Kategorien denken zu können, wenn man das Phänomen des deutschen Faschismus in Bausch und Bogen über die mythosumwobene Figur Adolf Hitlers zu erklären versucht. Der nämlich hätte samt seinem buntkarierten Anhang nicht die geringste Chance gehabt, wäre er nicht genau zur günstigsten Zeit in Deutschland auf ein Gemisch von politischen, wirtschaftlichen und geistigen Voraussetzungen gestoßen, auf einen Wust von Vorurteilen, Spannungen und Strömungen, die er sich - und darin bewies er ungewöhnlich viel Talent - zunutze machte.
Man muss sich von heutigen Lebensvorstellungen lösen und sich die damaligen Realitäten vergegenwärtigen, wenn man den Zulauf erklären will, den die Nazis damals hatten: eine völlig kraftlose Wirtschaft mit fünf bis sechs Millionen Arbeitslosen, Armut, die noch Hunger bedeutete, frieren, tote Säuglinge. Tief verwurzelt in der Bevölkerung die Überzeugung, das alles verdanke man dem "Diktat von Versailles", nachdem der "November-Dolchstoß" aus der Heimat die "im Felde unbesiegte" Armee zur Kapitulation gezwungen hatte. Und dazu ein Reichstag, der sich in Fraktionsgerangel aufrieb, der nur noch mit sich selbst beschäftigt war, als gäbe es nichts Wichtigeres im Lande. In diese brisante Gemengelage stieß Hitler mit seinen Nazis, und die Leute hörten ihm aus ihrer verzweifelten Lage heraus zu, nicht weil er sie etwa be- oder verzaubert hatte.
Ich selbst war sechs Jahre alt, als das ablief. Eltern arbeitslos. Den Winter hatte ich in Sommersandalen verbracht. Einmal die Woche durfte ich mir an einer Sammelstelle 1/4 Liter Milch abholen, aus einer Spende der Bauern vom Stadtrand. Meine größte Sorge war, wie ich zu einer Schiefertafel kommen könnte, die ich in einigen Monaten als Schulanfänger brauchen würde...
Es war eine Zeit, in der selbst erprobte Demokraten nur noch auf ein Wunder hofften. Der Reichspräsident Hindenburg, ein Mann des Militärs, setzte auf Hitler. Und dieser nutzte die Chance. Er versprach Arbeit für alle, Staatsaufträge wie etwa den Autobahnbau für die Wirtschaft, Aufkündigung des "Schandvertrags" von Versailles, Rückkehr der abgetrennten Gebiete, Wiederherstellung der Wehrhoheit und Schaffung einer modernen Armee, vor allem aber die Bestrafung der "Novemberverbrecher", die für Deutschlands Niedergang verantwortlich seien, der Sozialdemokraten, Kommunisten, Juden, Freimaurer, "sexuell Entarteten", Bibelforscher und "aller sonstigen Schmarotzer" an der Nation.
Das war das buntscheckige Programm der Nazis. Es wurde von vielen Leuten in Ermangelung einer Alternative geglaubt und akzeptiert. Damit hatte Hitler gewonnen, nicht mit seiner Persönlichkeit. Meine Großmutter, die damals bei einer begüterten Familie putzte, die ein Radio besaß, hörte ihn reden und sagte in der ihr eigenen, respektlosen Art: "Er quatscht wie der Kahlkopf auf dem Jahrmarkt in Krappitz, der immer die Fußabtreter verkauft!"
Überhaupt war ja die Möglichkeit Hitlers, bei großen Menschenmassen gehört zu werden, begrenzt: Fernsehen gab es nicht, Radios waren noch sehr teuer, und nicht viele Leute lasen regelmäßig Zeitungen. So blieb dem Redner Hitler nur die Chance von Veranstaltungen in großen Städten. Nicht zu vergleichen etwa mit den Gelegenheiten, die ein Demagoge heute hat!
Lieber Herr B., solche und ähnliche Erwägungen könnten bei einer historischen Aufarbeitung des deutschen Faschismus nützliche Diskussionsgegenstände sein, nicht der Quatsch mit dem "Monster". Vor allem wäre wichtig, auszuleuchten, wie der weitere Weg des Faschismus verlief, wie Schritt für Schritt von der verbalen Drohung zum Mord an den Gegnern und der Verwandlung der Mitläufer in willenlose Mittäter vorgegangen wurde, bis zu den einmaligen Kriegsverbrechen und zum industriell organisierten Massenmord. Das alles aber kann ich in dieser gegenwärtigen, wohl vornehmlich auf Quotenförderung bei den Medien zielenden pseudohistorischen Diskussion nicht einmal im Ansatz erkennen, und deshalb finde ich sie verlogen. Unanständig, weil sie junge Leute wie Sie es sind, nicht mit Wissen versorgt, sondern mit Unwissen umnebelt.
Ich kann Ihnen nur raten, mit diesem "geistigen" Unrat äußerst vorsichtig zu verfahren!


V.C. in B.:
Ich höre gerade im Radio einen Minister anlässlich der Nazi-Provokation im sächsischen Landtag sagen, man müsse sich mit diesen Leuten inhaltlich auseinandersetzen. Glaubst du, das geht?

Harry Thürk:
Lieber Victor, kein Grund zu verheimlichen, dass wir uns seit 1945/46 kennen, als wir hier die Antifa-Jugend gründeten, und Überlebende aus Buchenwald, wie etwa der heutige Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, Kurt Goldstein, uns auf kameradschaftliche Weise dabei unterstützten. Damals hätten wir wohl alle laut gelacht, wenn uns einer gesagt hätte, sechs Jahrzehnte später würden in Weimar wieder ganz offen Faschisten dafür demonstrieren, dass der bestialische Geist von Buchenwald zurückkehrt. Ich bin seit dem ersten Anlass dieser Art fassungslos darüber, dass die Ratsherren der Stadt, deren Namen die Nazis mit Schande befleckten, sich bis heute nicht in der Lage sehen, Verfechtern des industriell betriebenen Massenmordes an Juden, Slawen, Andersdenkenden aller Art, ja selbst Zigeunern, Homosexuellen oder Zeugen Jehovas, jegliche Aktivität in Weimar zu verbieten. (Wohlgemerkt: es geht nicht um das Verbot einer Partei, sondern um das Verbot von menschenfeindlichen Aktivitäten!)
So kommt es also zu der kaum glaublichen Realität, dass auf einem Platz Faschisten die Wiederkehr der Barbarei fordern dürfen, während ein paar hundert Meter weiter, auf einem anderen Platz, Demokraten öffentlich feststellen, sie seien dagegen. Und zwischen beiden steht die Polizei, um zu verhindern, dass sich die unterschiedlichen Demonstranten an die Gurgel gehen. Eine schizophrene Situation, in der eine kindliche Vorstellung von demokratischer Toleranz sichtbar wird. Ein niederländischer Freund, der mich besuchte, nachdem er sich solch ein Spektakel angesehen hatte (sein Vater starb in Buchenwald), sagte mir: "Ich dachte, ich bin in einem missratenen Film..."
Nun haben wir im sächsichen Landtag bereits eine ganze Nazi-Fraktion, die es sehr geschickt versteht, Schaum zu schlagen. Und völlig an der Sache vorbei erläutern einem demokratische Politiker, da sei das schiefgegangene NPD-Verbot schuld. Das wäre "ein schlecht vorbereiteter Schnellschuss" gewesen, und überhaupt eben nutzlos, denn selbst bei einem Verbot würde diese Partei sich Tage später unter anderem Namen neu gründen. Man müsse sich, das sei auch der Grundgedanke bei der Ablehnung des Verbotsantrags durch das Verfassungsgericht gewesen, mit diesen Leuten "inhaltlich auseinandersetzen".
Ich hätte gern mal einen der Herren, die diesen Spruch gefällt haben, gefragt, wie er es sich vorstellt, sich mit einem dieser nicht lernfähigen, nicht zuhörwilligen Gewalt- und Massenmorddogmatiker, die lediglich in der Welt ihrer Vorurteile leben, überhaupt ein Gespräch zu führen, geschweige denn eine "inhaltliche Auseinandersetzung". Ohne den hohen Richtern zu nahe treten zu wollen, möchte ich doch darauf aufmerksam machen, dass die älteren Deutschen, die den Faschismus noch an der Macht erlebten, jede betuliche Toleranz dieser wieder nach Macht strebenden Barbarei gegenüber ablehnen. Sie wissen warum. Und im Übrigen (lieber Victor, ich höre schon das Gebrüll: "Frechheit! Stopft dem Kerl das Maul!") empfehle ich jedem Deutschen, vom Gerichtspräsidenten bis zum arbeitslosen Tellerwäscher, sich mucksmäuschenstill und unauffällig darüber zu informieren, wie die "Machtergreifung" der Nazis am Ende der Weimarer Republik damals vor sich ging. Sehr lehrreich, besonders auch für Mitglieder der heutigen Regierungspartei, die ja damals schon im Reichstag vertreten war und die "Ermächtigung" Hitlers miterlebte...
Die ganze Welt würde es als ehrenhaft empfinden, wenn der deutsche Bundestag, der in manch anderem Falle mit Beschlüssen sehr schnell ist, nach den Erfahrungen mit dem Faschismus ein grundsätzliches Verbot der Verbreitung faschistischen Gedankenguts in deutschen Parlamenten beschließt. Dazu braucht es kein Parteiverbot und keine richterliche Zustimmung. Und: Volksverhetzung ist doch ohnehin strafbar. Warum also immer die faden Ausreden mit dem Parteiverbot, um das es gar nicht geht? Darüber kann man sich eine Menge Gedanken machen...
Lieber Victor, ich hoffe, du bist bald wieder einmal hier. Dann können wir unsere Vermutungen darüber anstellen, weshalb man in diesem Weimar/Buchenwald (der Etter ist Teil des Stadtgebietes) mit einer vom Rat festgelegten Strafe wegen Ordnungswidrigkeit belangt wird, wenn man Schmutz auf dem Bürgersteig vor seinem Haus nicht beseitigt, es aber im Einklang mit der Stadtordnung straflos geschehen kann, dass die geistigen Erben des braunen Massenmordes die ganze Stadt allein durch ihre Auftritte erneut durch den Dreck ziehen.
Auch darüber, dass man glaubt, dagegen würde eine Demonstration helfen, und vielleicht noch "inhaltliche Auseinandersetzungen", können Leute wie wir wohl eine Menge Überlegungen anstellen!


Herr K.H. in St.:
Der US-Präsident hat jetzt erklärt, die Suche nach Massenvernichtungswaffen im Irak sei beendet, es sei nichts gefunden worden. Das wusste man doch längst. Was, glauben Sie, bezweckt Mr. Bush mit seinem Statement?

Harry Thürk:
Die Absicht, lieber Herr H., ist, das Irak-Unternehmen in eine neue Etappe zu lancieren. Das vom Geheimdienst zusammengelogene Horrorszenarium mit den atomaren, bakteriologischen und chemischen Waffen, die angeblich die ganze Welt bedrohten, hat ausgedient, der eigentliche Zweck der Schwindelei ist erreicht, die Ölquellen des Irak befinden sich im Griff der USA. Nun kommt "Deckel drauf - nächster Schritt" zur Anwendung.
Das heißt, über die zusammengelogenen Präventivkriegsgründe wird nicht mehr gesprochen, sondern nach der Methode "Jetzt kommt es darauf an..." nur noch über das was von den USA als angeblich wichtiger vorgegeben wird: Frieden, Menschenrechte, Demokratie, Freiheiten, Lebensbedingungen und was derlei biegsame Begriffe mehr sind.
Ziel ist, das US-Militär möglichst zügig aus dem Irak abzuziehen, unter großem Getöse, dass man "...den einheimischen demokratischen Kräften zutraut, das Land nun über Wahlen in die Demokratie zu führen..." oder ähnliche frommen Wünsche. Das läuft auf eine bedeutende finanzielle Entlastung der USA hinaus. Und darauf, dass die Europäische Union die Verantwortung und die Kosten für das übernimmt, was im Irak von nun an getan werden muss. Funktioniert hat diese Masche ja bereits in Afghanistan, nachdem das strategische Ziel der USA dort erreicht war (oder sich als unerreichbar erwies) und die ganz ähnlichen Horrorgeschichten, etwa die von Bin Ladens Atomlabor in der Hindukusch-Höhle, ihre Pflicht getan hatten.
Man kann also absehen, dass wir Europäer wieder zur Kasse gebeten werden. Mit dem Lockruf "Jetzt kommt es darauf an..."
Ich bin überzeugt, es werden sich bald schon deutsche Gutmenschen finden, die lautstark dafür werben, dass wir, denen es doch um so vieles besser geht als den Irakern, von unserem Reichtum abgeben. Auch um die Weltgeltung Deutschlands zu fördern, natürlich!
Und es wird eine Menge argloser Schwätzer geben, die in ein hingehaltenes Mikrofon flöten, wie stolz es sie macht, den Treibstoff für die US-Flotte auf diese Weise zu subventionieren - ach nein, so werden sie es nicht sagen, es wird sich vielmehr so ähnlich anhören wie: "Deutschland gehört in die erste Reihe derer, die dem Irak helfen, das schulden wir unserer Ehre als stärkste Wirtschaftsmacht Europas!"
"Auch unseren fünf Millionen Arbeitslosen?" erdreiste ich mich zu fragen. - Aber bis einer unserer Regierer darauf eine Antwort findet, wird Mister Bush bereits zum nächsten Schlag ausholen. Denn "Jetzt kommt es darauf an..." hat noch lange nicht ausgedient!
Hausgemacht deutsch sieht das so aus: Da bringt ein Iraker in München einen bekannten Mann um. Weil er u.a. wegen Raub und anderen Gewalttaten schon vor Gericht stand, kann er über seine gespeicherten DNA-Daten binnen 24 Stunden überführt werden. Im ganzen Land stellen Leute die Frage, warum ausgerechnet ein solcher Mann sich in Deutschland weiter als Asylant aufhalten durfte. Selbst bei Anlegung schärfster politischer Maßstäbe kann man das nicht als Ausdruck von Ausländerfeindlichkeit abqualifizieren. Trotzdem scheuen sich unsere Regierer offenbar, diese berechtigte Frage auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Das geht aus der sofort eingesetzten Nebelkerzenaktion der Medien hervor. Die verkünden pausenlos in allen Blättern und über alle Sender, in Deutschland sei eine gewaltige Diskussion über Rechtsfragen bei der DNA-Analyse ausgebrochen.
Wie praktisch, nicht wahr? Das ist "Deckel drauf ... jetzt kommt es darauf an..." in seiner etwas jämmerlich anmutenden deutschen Provinz-Ausprägung.


Herr K.H. in B.:
Hallo, Harry, ich wünsche ein erträgliches '05! Eben ist das Unwort des Jahres raus. Dir gelingen doch auch immer mal griffige Wortschöpfungen - hättest du was besseres, oder bist du einverstanden?

Harry Thürk:
Mit "Humankapital" 100%ig! Das ist genau so widerlich wie ein Unwort sein soll!
Aber wenn ich könnte, würde ich eine neue Kategorie einführen: das originelle Wort. Und da würde ich dieses Jahr mit einem Fundstück beginnen, das ich bei der Lektüre des Buches eines Professors entdeckte, die "Verhausschweinung" (des Bürgers). Das finde ich einmalig. Weil es auf unserer Gegenwart sitzt wie so schnell nichts wieder. In dem Sinne, dass der Bürger immer mehr zum Eigentum der Regierer gemacht wird ("unsere Menschen"), ähnlich eben einem Hausschwein, das zwar nicht mehr lebt, aber in Form von Schinken und Speckseiten in der Speisekammer hängt. Immer wenn der Besitzer Appetit oder Hunger hat, schneidet er sich ein Stückchen ab und verspeist es.
Das Gleichnis ist nicht zu übersehen, denn was tun unsere Regierer denn anderes, als sich von uns "Hausschweinen" immer wenn sie es brauchen etwas abzuschnibbeln - keine Schinkenscheibe, sondern "Sozialmünze", "Gesundheitsmünze" und wie die Beiträge zur Aufbesserung der Staatsfinanzen alle genannt werden!
Da trifft "Verhausschweinung" ins Schwarze. (Verzeihung, natürlich ins Rot/Grüne!)
Ich habe mich, im Vertrauen gesagt, ziemlich geärgert, dass dieser Knaller nicht mir eingefallen ist. Trotzdem, lieber K., ich empfehle ihn für eine neue Kategorie von Worten, man könnte sie "Das originellste Wort des Jahres" nennen.
Dir und G. alles Gute im Jahr des Humankapitals!


Frau L.-B. in W.:
Die Regierung versucht, für Deutschland einen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu bekommen. Worin sähen Sie den Nutzen einer solchen Mitgliedschaft?

Harry Thürk:
Die UNO, liebe Frau L.-B., hat die Hoffnungen der Menschheit nicht erfüllt. Krieg, Völkermord, Rassenverfolgungen, Putsche, Terror - alles das peinigt uns weiterhin, während die UNO lediglich mit den Folgeerscheinungen beschäftigt ist, um sie nach Möglichkeit zu lindern.
Inzwischen ist das höchste Entscheidungsgremium der Weltorganisation, der Sicherheitsrat, zu einem Kungelklub geworden, in dem waffenstarrende Supermächte ihre jeweiligen geopolitischen, wirtschaftlichen, strategischen und weltmachtbezogenen Interessen untereinander ausmachen und abgleichen. Unverhüllt setzen sie Staaten unter Druck, falls sie ihnen nicht dienstbar sein wollen. Andererseits definieren sie "Gut" oder "Böse" ganz nach ihrem Gusto. Das führt dann zu direkter Verhöhnung des Grundgedankens der UNO, indem etwa einer blutigen Militärdiktatur wie Pakistan das Hantieren mit eigenen Atomwaffen erlaubt wird, wohingegen dem Iran schon aufgrund wissenschaftlicher Atomforschung mit "präventivem Militärschlag" gedroht wurde.
Unglaublich aber Tatsache sind solche stillschweigenden Übereinkünfte des gegenseitigen Händewaschens wie: "Ignorierst du mein Irak-Öl, dann ignoriere ich deinen Tschetschenien-Krieg." Dass für das deutsche Volk ein Nutzen entsteht, wenn nun auch rot-grüne Diplomaten in dieser Pokerrunde mitspielen, glaube ich nicht, obwohl Politiker immer wieder mit treuherzigem Augenaufschlag versichern, das wäre wichtig für "unsere Menschen". Ich bin niemandes Mensch. Und ich glaube nicht, dass etwa der Arbeitslose, der mit dem Suppenteller in der Hand vor der Armenküche Schlange steht, etwas davon hat, wenn Deutschland auch noch im Sicherheitsrat "Weltgeltung" mimt.
Hingegen weiß ich, dass es zu den ältesten Maschen von innenpolitisch gescheiterten Regierungen in aller Welt gehört, politisch nicht durchblickfähigen Bürgern "außenpolitische Erfolge" vorzumachen mit "Weltgeltung" statt Arbeit und "Wir-sind-wieder-wer" statt Bildung.
Was mich persönlich betrifft, so bin ich zu alt geworden und habe zu viele politische Lügner erlebt, um mich von solchem Zinnober noch beeindrucken zu lassen.


Herr U.F. in Oe.:
Lieber Herr Thürk, zwei unterschiedliche Fragen zu Ihrem literarischen Schaffen:
1. Gab es zwischen Wolfgang Schreyer und Ihnen Absprachen - Schreyer "beackert" die westliche Welt und Thürk den Süden?
2. Als Sie "Dien Bien Phu" schrieben, kannten Sie Erwin Borchers und Rudolf Schröder?

Harry Thürk:
Nein, Absprachen über solche Dinge gab es zwischen uns nicht. Wir kannten uns selbstverständlich, zumal wir ja im selben Verlag publizierten, und in mancher Hinsicht wurden uns ganz ähnliche Steine in den Weg gerollt. Als Wolfgang Schreyer, damals noch unbekannt wie ich auch, mit "Großgarage Südwest" den ersten handfesten Kriminalroman in der DDR veröffentlichte, kam das einer Sensation gleich. Zumal das Buch glänzend geschrieben war und einen hohen Unterhaltungswert hatte. Genauso hat Schreyer ja weitergemacht: Tiefgang unterhaltsam. Ich gebe gern zu, dass auch ich immer darum bemüht war. Und bin.
Wir beide hatten Erfolg. Unsere Bücher waren das, was man in der DDR "Bückware" nannte (weil die Verkäuferin sie oft, für gute Kunden reserviert, unter dem Ladentisch liegen hatte!) Das allerdings hat in vielen Fällen den Erfolgsneid von Kollegen befördert, die jahrelang auf einer Auflage saßen. Mich fragte einmal ein Reporter, wie das käme, und ich antwortete ihm: "Ich schreibe Bücher, die von den Leuten freiwillig gelesen werden."
Das haben mir die Langweiler unter den Kollegen, die immer mit der Legende hausieren gingen (und gehen), sie allein würden Deutschlands "echte und ernste Literatur" machen, nie vergessen. Da wurde der Allerweltsterminus "Unterhaltungsliteratur" zu Hilfe geholt. Dann wurde darin "...literatur" in "...lektüre" geändert. Später setzte sich der Rufmord mit "Vielschreiberei" fort, bis die Sache dann auch noch politisch eingefärbt daherkam (wie in der Kampagne gegen "Die Stunde der toten Augen"). Das alles hat ja Wolfgang Schreyer ganz ähnlich erleben müssen. Nichtsdestotrotz haben unsere Bücher mit ihren unzähligen begeisterten Lesern überlebt, während die Langweiler heute Politiker küssen müssen, damit sie wenigstens ihren Platz in den Regalen behalten (und im Falle von Arrangement auch den auf den Gehaltslisten der Akademien). -

Erwin Borchers kannte ich recht gut. Er und Rudi Scheibenreif, auch ein Veteran von Dien Bien (er arbeitete in Hanoi in der Zeitungsdruckerei) gehörten zu den Freunden, die ich immer zuerst besuchte, wenn ich dort ankam. Erwin Borchers war dann Mitautor des Bildbandes "Stärker als die reißenden Flüsse". Ich habe von ihm sehr viel gelernt, und vielleicht hätte ich über sein abenteuerliches Leben schreiben sollen, leider kam es nicht dazu. Mit ihm ist auch eine Generation abgetreten, von der die heutigen jungen Leute allzu wenig wissen.
Übrigens, die Töchter von Rudi Scheibenreif und deren heute auch schon heiratsfähige Töchter besuchen mich oft. Sie gehören inzwischen sozusagen zur Familie. -


Herr H. G. Ffm.:
Wir kannten uns als Nachbarn in Weimar, bevor ich hierher zog. Ich habe eben zum zweiten Mal für die Anna-Amalia-Bibliothek gespendet, und jetzt höre ich von Bekannten, es gäbe Leute am Ort, die sagen, die ganze Sache sei nicht koscher. Können Sie mich aufklären?

Harry Thürk:
Lieber Herr G., "nicht ganz koscher" ist eine sehr höfliche Charakterisierung des Sachverhalts. Ich selbst höre hier von Bürgern der Stadt, die mit dem eigenen Kopf denken, statt die "Vordermann-Denkmuster" zu übernehmen, das Gleichnis von den sich gegenseitig waschenden Händen oder dass eine Krähe der anderen kein Auge auskratzt. In der Tat gibt es für Misstrauen in dieser Hinsicht Gründe, die sich selbst mit der sonst so wirksamen Beamten-Empörung nicht mehr einfach als Verleumdung zurückweisen lassen, dafür sind sie zu gewichtig.
Vielen Leuten fällt heute mit einer gewissen Verzögerung auf, dass die eigentliche Kardinalfrage, wer denn für das Wohl und Wehe der wertvollen Schätze in der Anna-Amalia-Bibliothek verantwortlich war, wer dafür bezahlt würde, und wessen vernachlässigter Aufsichtspflicht es zuzuschreiben ist, dass der Brand Millionenschäden anrichten konnte, nie zur Sprache kam. Nicht einmal ganz leise!
Die Rauchfäden stiegen noch in die Luft, als blitzartig eine blendend konzertierte "Solidaritätsaktion" in Gang gesetzt wurde, die sich wie ein Nebelschwaden vor die bestürzende Realität legte. Das Wort "blendend" kann hier durchaus in seiner Bedeutung als Sichtbehinderung aufgefasst werden. Und: weder die Brandsachverständigen noch die Kriminalpolizei oder gar die Staatsanwaltschaft haben das Vorhandensein eines Verantwortlichen auch nur erwähnt, geschweige denn ihm Fragen gestellt. Etwa die nach Brandschutzmaßnahmen, die er verpflichtet gewesen wäre, anzuordnen und zu kontrollieren. Wie reimt sicht das? -
Von einem nicht funktionierenden Rauchmelder war zu hören. Nun kann man schon auf dem Beipackzettel eines solchen Geräts lesen, dass es nur dann verlässlich arbeitet, wenn die Luftströmungen am Ort seiner Installation absolut unverändert bleiben. Bekanntlich war das Obergeschoss der Bibliothek eine Baustelle geworden. Dachteile wurden geöffnet, wodurch die Luftströme anders als zuvor verliefen. Hitzezufuhr in die hölzerne Dachkonstruktion ermöglichte, dass (was jeder Elektriker kennt) Kabelisolierungen unter Dehnungsdruck reißen und Kurzschlüsse zur Folge haben konnten. Diese Gefahren muss ein Verantwortlicher einfach kennen, da gibt es keine Entschuldigung, denn der Brandschutzmann der Einrichtung kann sie ihm schildern. Eigenartig, dass über solche hochwichtigen Fragen der Verantwortung eines Leiters, dem Millionenwerte anvertraut sind, bis heute nicht ein öffentliches Wort fiel. Da darf man sich über Argwohn nicht wundern. -
Mein persönliches Misstrauen, lieber Herr G., wird noch durch einen anderen Aspekt der Sache befeuert. Ich halte Journalisten nämlich nicht für dumm, mögen sie sich auch zuweilen so stellen, um unangenehmen Fragen auszuweichen, deren Beantwortung sie letztlich in Konflikt mit dem Besitzer ihrer Zeitung oder mit der "Parteidisziplin" (siehe "Vordermann"!) bringen, durchaus aber auch die Gefahr des Blauen Briefs für sie bedeuten könnte. Aber in diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass nicht ein einziger dieser Leute es wagte, in seinem Medium auch nur ganz sacht daran zu erinnern, dass auf eine Baustelle wie es die Bibliothek war, nachts ein Wachmann gehört. Das ist übliche Routine. Ein solcher Nachtwächter wäre dem knappen Etat der Einrichtung nicht zur Last gefallen, er hätte im sogenannten "1-Euro-Job" bezahlt werden können, und: mit diesem einen Euro wären nicht nur Millionen Wiederherstellungskosten sondern auch unbezahlbare kulturhistorische Verluste vermieden worden. Ist es nicht von umwerfender Einmaligkeit, dass bis heute niemand diesen Gedanken hatte? Oder war er von vornherein als tabu erklärt worden?
Urteilen Sie selbst, Herr G., und lassen Sie sich zum Schluss noch für Ihre Spende danken. Trotz der "nicht koscheren" Umstände dieser ganzen Angelegenheit dient sie einem guten Zweck...


Frau E.Z. aus G.:
Die große Bereitschaft meiner deutschen Landsleute, mit Spenden den Opfern des Seebebens zu helfen, macht mich stolz. Teilen Sie dieses Gefühl, oder halten Sie die Höhe der Spenden für übertrieben?

Harry Thürk:
1.) Mitmenschen in Not zu helfen, ist eine der größten Tugenden, die es in unserer modernen, manchmal an Werten etwas verarmten Welt gibt. Wir können uns glücklich schätzen, sie bewahrt zu haben. Nicht selten in unserer eigenen Geschichte ist uns selbst geholfen worden...
2.) Wenn allerdings deutsche Staatsvertreter im Zusammenhang mit Steuergeldern, die sie für Hilfszwecke spenden, es nicht unterlassen können, zu verkünden, die Höhe der Beträge sei "Ausdruck der Führungsrolle, die Deutschland in der Europäischen Gemeinschaft spielt", so halte ich das für widerliches Großmachtgetue, und ich schäme mich für diese typische Fehlleistung eitler, dünngeistiger Ehrgeizlinge, abgesehen davon, dass eine derart beschworene Vorrangstellung unserem Land noch nie in seiner Geschichte gut getan hat.
3.) Es würde mich interessieren, wieviel von ihrem eigenen, üppigen Einkommen unsere politischen Führungsrollen-Beschwörer persönlich gespendet haben. Von der Höhe ihres Beitrages würde ich den Grad der Ehrlichkeit des pathetischen Geredes ablesen, das sie im Zusammenhang mit der Hilfsaktion so lautstark über alle Medien verbreiten.


Herr W.K. in N.:
Wie beurteilen Sie als Asien-Kenner die gegenwärtige Entwicklung in China? Die supermoderne, gigantische Industrialisierung der Städte mit punktuellem riesigem Reichtum und die nach wie vor schreiende Armut auf dem Lande - sammelt sich hier nicht gewaltiger innenpolitischer Zündstoff an?

Harry Thürk:
Ich teile Ihre Befürchtungen, Herr K. Allerdings wird eine längere Zeit vergehen, bis sie akut werden. Wir Europäer neigen dazu, bei solchen Dingen allzu sehr von unserer Tradition und unserem Wertesystem aus zu urteilen. Da sind im Hinblick auf China differierende Elemente wirksam. So ist die Vorstellung von materiellem Reichtum etwa völlig anders geartet: eine möglichst große Familie, viele Enkel und Urenkel - das ist Reichtum. Dahinter rangieren mit großem Abstand erst Auto und alle anderen "Errungenschaften", die Europäer erstreben.
Zumal Chinesen infolge der sehr unterschiedlichen Art zu leben mit den meisten unserer "Errungenschaften" nicht viel anfangen können. (Z.B. mit einem Ferrari-Cabrio in straßenloser Provinz!) Unterschiede wird es bei der jeweiligen Studentengeneration geben, da ist der Hang zur "Gleichziehung" in punkto moderner Zivilisation und westlicher Lebensart naturgemäß immer stärker.
Interessant im Sinne meiner Überlegungen ist vielleicht Hongkong. Der britische Kolonialismus hatte ja hier eine unglaublich steile Verlaufform zwischen Reich und Arm geschaffen. Und trotzdem gab es in Hongkong so gut wie nie Aufstände der ärmeren Bevölkerung. Eine Erscheinung, die man auch aus Shanghai kennt, wo die soziale Kurve ähnlich verlief. Shanghai war - wie Hongkong - nie in der Gefahr, zu "explodieren". Das nur zum Nachdenken...
Generell und auf lange Sicht wird die rasante Industrialisierung China aber schon verändern, nur glaube ich, das wird über viele Generationen und Jahrzehnte erfolgen. Und an Zündstoff wird sich deshalb nie soviel ansammeln, dass es zur großen Explosion reicht. -