Harry Thürk:
Nein, Herr M., ich habe kein Muster für eine absolut ideale Gesellschaftsordnung
sozusagen in der Westentasche. Auch auf die vielen Nebenfragen habe ich
keine schlüssigen Antworten, aber ich kann Ihnen erklären, weshalb
mir das so geht. (Und wohl nicht nur mir, sondern einer Menge Leute, die
sich nicht von einer unerfüllbaren Illusion zur anderen quälen,
sondern das nüchterne Denken über die realen Grundlagen politischer
Vorgänge vorziehen.)
Wir haben in dem Teil Deutschlands, in dem ich lebe, ziemlich verlogene
politische Verhältnisse: Klagt einer darüber, dass er seit Jahren
arbeitslos ist, was ihm zu DDR-Zeiten nicht passieren konnte, so wird
er eilfertig als "DDR-Nostalgiker" verhetzt, in hartnäckigen
Fällen "... verteidigt er eine Unterdrückungsgesellschaft",
und zuletzt kann natürlich noch die Keule aus der Sammlungsbehörde
des Stasi-Mülls ausgepackt werden.
Hingegen: Lästert er laut, es habe ja in dieser DDR nicht mal Bananen
gegeben (und vergisst er dabei Embargo und Boykott der Ostmark!), dann
ist das die Ankunft in der wahrhaften deutschen Demokratie. Ob das der
Demokratie zu mehr Ansehen verhilft? Fraglich!
Verdrängen und Hinzulügen sind Methoden, die ich persönlich
nicht für geeignete Etiketten einer Demokratie halte. Und das gilt
nicht nur für deutsche Verhältnisse. Es sind globale Unsitten
in ihrer deutsch-mickrigen Abart. Aber da sind wir beim Problem.
Globalität: Das internationale Großkapital und die Hochfinanz
haben mit diesem süffigen Schlagwort erreicht, dass große Teile
der arglosen Nickemännchen und -weibchen in aller Welt die Entbindung
der Geldaristokratie von jeglicher Art nationaler Verpflichtung auch noch
mit Beifall begrüßten.
Seitdem führt die letzte verbliebene Atomweltmacht ihre humanistisch
garnierten, nichtsdestotrotz absolut völkerrechtswidrigen Kriege
im Interesse ihrer Machterweiterung auf eine Weise, dass man zögert,
an die einschlägigen historischen Beispiele zu erinnern. Und die
deutsche Regierung, in der Jacke der "europäischen Bündnisfähigkeit"
muss ihrer Bevölkerung eine Belastung nach der anderen aufbürden,
weil Europa in der globalen Abstufung die Aufgabe zufällt, überall
dort die Folgen dessen zu beseitigen, was die USA in ihren Demokratisierungs-
und Erdölbeschaffungsfeldzügen hinterlassen, auf dem Balkan,
in Afghanistan, im Irak... Zu den Lügen über die Atombombenlabors
in den Hindukusch-Höhlen, über die friedliche albanische Minderheit,
deren Kinder von den Serben gegrillt werden, oder die Massenvernichtungswaffen
Saddams kommen die neuen deutschen, über die Verteidigung der BRD
am Hindukusch, über die Pflicht der Arbeitslosen, ihr Schicksal geduldig
zu tragen, als vaterländische Pflicht, weil man ja die Industriellen
unterstützen müsse, damit sie global richtig wirken können.
Export-Weltmeister werden, und was ähnliche Meriten mehr sind, für
die sich ein Arbeitsloser oder Rentner nichts kaufen kann ... und ...
und ... und ...
Lieber Herr M., ich könnte noch eine Weile weiter aufzählen,
wie das vermeintliche Zuckerbrot der Globalisierung den vorherigen durchaus
nicht idealen Zustand ganz entscheidend zuungunsten der minder bemittelten
Leute verändert hat. Und in dieser neuen Machtlage, die auf einen
Knopfdruck der Weltbeherrscher hin jegliche unerwünschte Entwicklung
per "Militärschlag" in Trümmer bomben und für
die Europäer zum Aufräumen hinterlassen kann, versagt meine
Fähigkeit, mir eine mögliche Gesellschaftsordnung auszudenken,
die meine volle Zustimmung hätte, eben ohne die Gefahr eines "Militärschlags".
Das wird Sie möglicherweise nicht befriedigen. Es befriedigt mich
selbst auch nicht. Aber ich bin immer nur ein Beobachter politischer Entwicklungen
gewesen, kein Polit-Akteur. Und das bleibe ich auch. Und schüttle
den Kopf über Politiker, die mich für so dumm halten, dass ich
ihnen glaube, sie erwarten von ihren Appellen zu mehr Patriotismus tatsächlich
ein "Umdenken" des global befreiten Großkapitals. Ich
warte auf den Tag, an dem mir nicht aus der Morgenzeitung schon ein Gemisch
von Lügen über "Wirtschaftserholung durch Ärmelaufkrempeln
aller" (Arbeitslosen?) und eine satte Auswahl von korrumpierten Politikern
vor Augen führt, in welcher Gesellschaft ich lebe.
Solange das so ist, Herr Mayer, werde ich Ihre Frage(n) nicht beantworten
können. Leider. Und jeden, der Ihnen erzählt, er habe das Patentmodell,
mit dem alles geregelt werden könne, man müsse ihn nur wählen,
den sollten Sie äußerst kritisch betrachten. Ich kann Ihnen
nämlich voraussagen, was er, nachdem sein fünfstelliges Monatssälar
als Politiker läuft, zur Entschuldigung vorbringen wird: "Nun
ja, da gibt es eine Menge hochkomplizierter Einzelfragen zu diskutieren,
aber ich bin überzeugt, wir sind auf dem richtigen Weg. Und wenn
wir zusammenrücken, auf Tuchfühlung gehen, und ... und ... und
..."
Jawohl, Herr Feldwebel! fällt mir dazu nur noch ein. Die US-Supermacht
hält für jedes Land, das ihr nicht zu Diensten ist, das Prädikat
"Böse" bereit, zusammen mit der Beschuldigung "Terrorismus"
und letztlich den Vernichtungsfeldzug.
Die europäische Machtkombination Deutschland/Frankreich ist emsig
bemüht, dass in unserem Erdteil alles "auf Vordermann"
bleibt, wobei sie sich der Unterstützung Russlands sicher sein kann.
Für die Imagination einer besseren Gesellschaftsordnung ebenfalls
kein Nährboden.
Ich bitte um Verständnis, wenn ich mich auf dem Gebiet der Illusionen
nicht betätige. Deutschland hat eine demokratische Gesellschaftsordnung,
das entspricht dem Willen der Bevölkerungsmehrheit. Eine solche Gesellschaft
lebt davon, dass die Bürger den Regierenden sagen, was sie an deren
praktischer Politik akzeptabel finden und was nicht. Im Zusammenhang damit
wird bei mir immer öfter ein Verdacht bestärkt, den ich auch
Sie einmal zu durchdenken bitte: Solange es auf jeden kritischen Einwand
eines intelligenten Bürgers an teils hirnlosen Maßnahmen nichts
weiter gibt, als den nassforschen Widerpart: "Haben Sie eine bessere
Lösung?", traue ich diesen "Volksvertretern" nicht.
Es gibt keinerlei Verpflichtung für einen Kritiker, sogleich mit
besseren Lösungen aufzuwarten. Das zu verlangen, ist ein fauler Trick.
Er trifft sich mit den sehr persönlichen Interessen solcher "Pattex-Politiker"
wie jener Dame im Norden, bei der allein die Andeutung, sie könne
abgewählt werden, schon zu dem öffentlichen Schreckensruf führte:
"Und wo bin ich dann..?" Ähnliches trifft auf den Minister
zu, der im Amt Schäden anrichtete, für die er in jeder Bananenrepublik
gefeuert worden wäre: Machterhalt um jeden Preis. Das liest sich
so: "Wenn ich überlege, was auf uns alles zukommt, dann mache
ich weiter!" Unentbehrlich?
Im Radio kann man jeden Morgen eine Meldung über den korrupten Politiker
des Tages hören. Heute war es ein Landrat in unserer Nähe. Siebenstellige
Summe veruntreut...
Und das, lieber Herr M., lässt mich manchmal denken, es ist gar nicht
die Gesellschaftsordnung, die uns zu schaffen macht - es ist vielmehr
das Personal, das ihre Schalthebel bedient. In Amerika ist es jedenfalls
so, dass die Demokratie der Vereinigten Staaten sehr viel besser ist als
das, was die gegenwärtigen Regierer aus ihr machen. Ich glaube, bei
uns auch...
Betrachten Sie die Sache einmal im Lichte dieser Überlegungen, vielleicht
ergibt sich da für Ihre Frage nach der idealen Gesellschaft ein völlig
neuer Aspekt.
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