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Das Harry Thürk - Fortsetzungsinterview

Da bis zum Tode Harry Thürks regelmäßig Leseranfragen im HTF eintrafen, war im Juli 2003 (v2.1) dieses Fortsetzungsinterview ins Leben gerufen worden. Hier finden Sie eine Auswahl der interessantesten Leserfragen an Harry Thürk. Im Mai 2006 (v5.4) wurden die letzten Fragen, die Thürk noch zu Lebzeiten schriftlich beantwortet hatte, veröffentlicht und das Interview endgültig eingestellt.
Übrigens: Eine Auswahl der Interviewfragen, sowie einige hier nicht veröffentlichte Texte, wurden Ende 2004 im Spotless-Verlag Berlin unter dem Titel "Treffpunkt Wahrheit" herausgegeben. Preis: €5,10.



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E.H. aus N.:
In einer hiesigen Zeitung las ich um die Zeit des Zwiebelmarktes herum die Klage eines Mannes, der angab, von der DDR-Justiz zu leiden gehabt zu haben, und heute bekomme er eine niedrigere Rente als "Leute, die in der DDR mitmachten oder stillhielten". Die beiden Vokabeln erinnerten mich an die sogenannte Kulturrevolution in China, von der ich viel beobachtete, weil ich während der Zeit als Einrichter für Schwermaschinen aus der DDR in China arbeitete. Finden Sie zu der Charakterisierung "mitmachen und stillhalten" in unserer heutigen Situation auch Parallelen?

Harry Thürk:
Ihre Beobachtung, Herr H., die Sie in China damals machten, stimmt, das kann ich bestätigen, weil ich ja selbst auch um diese Zeit dort arbeitete. Seit der Gründung der Volksrepublik war die Bildung stark gestiegen, und vornehmlich bei der Intelligenz machte sich daher ein steigendes Selbstbewusstsein bemerkbar, gepaart mit mehr Zivilcourage. Das beunruhigte die Schicht der dogmatischen Funktionäre, und sie brachten eine Aktion ins Rollen, die den "geduckten Bürger" zum Ziel hatte, der sich nach ihrer Überzeugung leichter regieren lässt. In der Praxis sah das so aus, dass man alle Chinesen, die nicht bei Mao gekämpft hatten, beschuldigte, unter dem reaktionären Regime der Kuomintang "mitgemacht oder stille gehalten" zu haben. Deswegen hätten sie sich nicht nur öffentlich zu entschuldigen, sie müssten alles öffentlich bekennen, was sie jemals gegen die Revolution getan hätten, auch den Fehler, sie nicht unterstützt zu haben.
Fortan hingen im ganzen Land die "Wandzeitungen mit großen Schriftzeichen", in denen Leute sich selbst beschuldigten, um härteren Behandlungen möglichst zu entgehen. Wessen Selbstanklage da nicht mindestens das Niveau von "Ich war ein Dreckschwein von Kapitalistenknecht und bitte alle Kollegen, mir zu verzeihen!" hatte, für den gab es den finalen Keulenschlag. Da erhob ein bestellter Denunziant halbwegs kriminelle Anschuldigungen, die der Betroffene entkräften sollte, was er natürlich nicht konnte. Und so endete die Sache bei ihm mit einer Einweisung in ein Lager zur "Arbeitserziehung". Das war in den meisten dieser Fälle die persönliche Endstation. -
Was nun, Herr H., die von Ihnen erwähnten Parallelen angeht, so sind die schon wegen der prinzipiell unterschiedlichen historischen und politischen Situation nicht gegeben. Ich glaube, was Sie entdeckten, sind Ähnlichkeiten. Die sind teils zwar bestechend, aber sie können eben nur als Ausdruck völlig anderer Gegebenheiten bewertet werden, wenn man ihnen gerecht werden will, ohne Gefahr zu laufen, dass irgendein Nahkampf-Journalist in sein Trompetchen stößt: "XY hat die BRD beschuldigt, Kulturrevolution à la China zu machen! Haut ihn, den Verleumder!"
Nein, so einfach ist die Sache nicht. Aber vielleicht regt Ihre Beobachtung von Ähnlichkeiten ja gerade deshalb zum Nachdenken an. Und Nachdenken ist nie falsch. Im Gegenteil...
Bei der Integration der ehemaligen DDR ins politische, wirtschaftliche und juristische System der Alt-BRD ging es von Beginn an um eine systematische Delegitimierung des "Unterdrückerstaats" DDR und um die Ausschaltung der bei diesem Prozess hinderlichen Schicht intelligenter Sozialisten - oder sozialistischer Intelligenz. Und hier wurde - und wird - in der Tat mit den Vokabeln "mitgemacht oder stille gehalten" gearbeitet. Mit Abwicklung, Rauswurf, Sperrung für öffentliche Ämter usw. Für den einigermaßen geschichtsbewanderten Betrachter hat das einen Zug von grotesker Verlogenheit; den gesamten historischen Kontext, in dem die DDR entstand, die Gründe ihres Entstehens überhaupt, das alles haben die Integratoren der "Neuen Länder" völlig vergessen. Haben sie wirklich? Wissen sie nicht, dass es sich da um die Besatzungszone der Sowjetunion handelte? Zur "Volksrepublik" aus taktischen Gründen nicht erklärt, aber zum "2. Deutschen Staat an der Westgrenze des Weltfriedenslagers, der Front dieses Lagers, dem der gesamte Warschauer Pakt angehört". Schon vergessen?
Dass der politische Weg dieser DDR nicht von Wasserhahn-Honecker oder Schnittlauch-auf-Omeletten-Ulbricht bestimmt wurde, sondern vom Politbüro in Moskau. Auch vergessen?
Dass der Sprecher des Moskauer Außenministeriums erst am 25.10.1989 die Erklärung abgab, die "kommunistischen Bruderstaaten" dürften ab sofort "über ihren politischen Weg selbst entscheiden"?
Dass in diesem "Bruderstaat DDR" nicht eine Luftgewehrkugel, geschweige denn eine Landmine, produziert worden wäre, ohne Auftrag oder Erlaubnis aus Moskau?
Vergessen? Ach nein, solche Dilettanten waren da nicht am Werke. Die tatsächliche Rolle der DDR im Kalten Krieg und die Kräfte, die da die Entscheidungen fällten, waren der Delegitimierung im Wege. Die offiziellen "Aufarbeiter" klammerten sie deshalb einfach aus, also hat es sie offiziell nie gegeben. Taschenspielertrick, aber wirksam. Denn es ging (und geht bis heute) lediglich darum, hartnäckigen Verfechtern einer sozialistischen Idee jede öffentliche Betätigungsmöglichkeit zu verbauen: "Sie haben diese hinten und vorn unzulängliche DDR geschaffen und verteidigt. Sie sind schuld, dass es keine Bananen gab, dass wir nicht nach Mallorca konnten, am Ballermann Landwein aus Plasteimern saufen. Sie haben zu allem stillgehalten und mitgemacht!" Da wäre sie wieder, die Ähnlichkeit der Vokabeln, Herr H.!
Kommen wir noch zu der Sonderkeule. Sie heißt bei uns Stasi. Es ist nichts dagegen zu sagen, dass Geschädigte einen Denunzianten, der von ihnen identifiziert wird, juristisch belangen. Nur geriete eine Justiz in üblen Geruch, wenn sie Leute auf anonyme "ernstzunehmende Hinweise" hin verfolgt, die aus einer staatlich subventionierten Sammlung von Abraum in Müllsäcken kommen. Weswegen sie das Geschnipsel nicht als Beweismittel akzeptiert. Den Ball übernehmen in Sachen Rufmord geübte Mietlinge einiger Medien. Der Verleumdete kann ja beweisen, dass er unschuldig ist. Wie er das machen soll, weiß keiner. So bleibt es, ähnlich wie bei dem Beispiel aus Fernost, bei der Schädigung des ehrlichen Namens. Es gibt in der BRD keine Arbeitslager chinesischer Prägung. Dieses Land ist trotz mancher widerlichen Manipulation eine Demokratie. Und trotz der Bemühungen einer Meute von Alt- und Neonazis wird es keine Diktatur werden. Das heißt allerdings nicht, dass es auf die ständige wache Zivilcourage seiner Bürger verzichten kann. Denn auch Demokraten vergreifen sich zuweilen, da ist das Engagement des Bürgers gefragt...
Ihren Beobachtungen, Herr H., ist äußerliche Ähnlichkeit mit entscheidenden Einschränkungen, wie Sie sehen, nicht abzusprechen. Vorrangig aber ist die Anregung zum Nachdenken, die davon ausgeht. Sie kommt direkt unserem Staatswesen zugute. Ich halte das für den entscheidenden Effekt.


Herr J. Sp. in H.:
Wir sprachen kurz nach der Wiedervereinigung miteinander - Sie Ost, ich West. Seitdem ist viel Zeit vergangen. In meinem Umfeld wird gesagt, die Leute im Osten sind nicht dankbar für unsere Hilfe. Ist das so? Wie sind die Tatsachen?

Harry Thürk:
Lieber Herr Sp., dass Dankbarkeit in der Politik keine wertbeständige Größe ist, werden Sie wissen. Deshalb schildere ich Ihnen lieber einige Tatsachen, und dann können Sie selbst entscheiden, welche Stimmung aus denen entstehen würde, wenn sie sich nicht im Osten, sondern in Ihrem Umfeld im Westen genauso abspielten, wie ich sie Ihnen hier mit leichter Feder und verfremdeten Eigennamen schildere:
1992 bricht der Herr Gottfried Allgaeuer aus dem Süden der "Alt-BRD" zur Hilfeleistung in den Osten auf. Er erwirbt (für einen symbolischen Preis) im mitteldeutschen Gebirgsraum die LPG Hopfental, wo bisher Hopfen angebaut wurde. Das modische Büchsenbier aus dem Westen hat hier eine akute Absatzkrise verursacht. Herr Allgaeuer rechnet auf die Zukunft, zumal die Investition sehr gering ist.
Im Verlauf der nächsten zwei Jahre erwirbt Herr Allgaeuer im Osten zu ähnlichen Ausverkaufsbedingungen, die die "Treuhand" festsetzt, eine Bierbrauerei, eine Spedition und sechs Gastwirtschaften, alles ehemalige "volkseigene Betriebe", die verschleudert werden, im Prozess der Privatisierung der Staatswirtschaft.
Um alle diese Unternehmungen sachgemäß führen zu lassen, mobilisiert Herr Allgaeuer seine gesamte, umfangreiche Familie. Sohn Alfons leitet die Hopfenerzeugung, Sohn Erwin die Brauerei, Schwiegersohn Ullrich die Spedition, die Schwiegertöchter Lucrezia und Antonie jeweils eine Gastwirtschaft, die Töchter Hulda und Lisa ebenfalls, die restlichen beiden werden von den Enkeltöchtern Jutta und Helene gemanagt.
Das Land zeichnet Herrn Allgaeuer wegen seiner umfangreichen Investitionstätigkeit aus, und wegen seiner vorbildlichen Bemühungen, Frauen in leitende Funktionen zu bringen.
Solidaritätsmittel und Förderhilfen vom Bund fließen ihm zu. Das Bier, das er produziert, trägt den alten, traditionellen Ost-Namen. Es symbolisiert nach Meinung der Politiker den Aufschwung Ost: Wenn man nur frischauf ans Werk gehe, seien die blühenden Landschaften keine Illusion!
Als in der Brauerei mehrere leitende Angestellte durch Vertraute Herrn Allgaeuers aus dem Westen ersetzt werden, protestiert der Gewerkschaftsvertreter gegen diese Praxis. Aber da wird entdeckt, dass er in seiner Militärzeit bei der NVA ein Gewehr trug. Damit soll er an der Grenze sogar geschossen haben, was jetzt untersucht wird. Bis zu einem Ergebnis wird er "freigestellt". Dank des Entgegenkommens von Herrn Allgaeuer wird er aber nicht arbeitslos - er kann als Reinigungskraft bleiben.
Der Gewerkschaftsvertreter des Speditionsunternehmens, dem der Transport des Biers zu den Gastwirtschaften obliegt, erklärt sich mit seinem Kollegen aus der Brauerei solidarisch und verlangt eine Offenlegung der hier geübten Praxis. Doch da meldet die Behörde für "ernstzunehmende Hinweise" ganz unvermittelt, dass in der von ihr verwalteten "Hosenrotz-Kartei" ein Name auftaucht, der dem des Gewerkschafters ähnelt, nur dass er wegen der amerikanischen Schwierigkeiten mit der deutschen Umlautschreibung nicht einwandfrei bestätigt werden könne. Auf jeden Fall aber sei Vorsicht wegen Stasi-Kontakten geboten. Der Betreffende wird nicht gekündigt, er kann in der betriebseigenen LKW-Waschanlage vorerst weiterarbeiten.
Herr Allgaeuer wird zum 10. Jahrestag der Wiedervereinigung wegen seiner vorbildlichen Investitionstätigkeit in den Neuen Bundesländern mit der goldenen Schlipsnadel und dem Adler am schwarzen Band ausgezeichnet. Weitere Fördermittel fließen. Ein führendes Wirtschaftsforschungsinstitut bescheinigt dem Unternehmergeist Herrn Allgaeuers Modellcharakter und empfiehlt ihn zur Nachahmung, statt über den schleppenden Aufbau Ost zu klagen.
Herr Allgaeuer kündigt an, er werde in einiger Zeit die Produktion der Blech-Kronenkorkenverschlüsse für die Bierflaschen nach Kolumbien verlagern, im Interesse der dort beschäftigungslosen Indianer. -
Dann gab es hier eine Landtagswahl, und ein Spaßvogel unter den Rednern karikierte die Investitionsmethode des Herrn Allgaeuer zur Förderung des Aufbaus Ost: Der Mann weiß, wie man das Geld in der Familie hält! Das war spöttisch-ironisch, nicht bösartig. Wie die Sache seit der Treuhand gelaufen war, weiß man ja ohnehin. Aber Herr Allgaeuer fühlte sich äußerst ungerecht angegriffen. Er klagte in einer süddeutschen Talkshow über "die Undankbarkeit der Leute da drüben", denen er so sehr geholfen habe. Eine Weile blieb es dabei. Doch dann begann die Regierung ihr "Programm zur Rettung des Sozialstaates durch Sozialabbau". Der Chef nannte es einen "Paradigmenwechsel", was er da veranstaltete, so dass bei weitem nicht jeder überhaupt verstand, was das sein sollte. Angeblich leben die Deutschen (alle!) über ihre Verhältnisse, und man müsse jetzt Einschränkungen setzen, um, wie es hieß, "die Renten der Kinder, Enkel und Urenkel zu sichern".
In der Folge brach eine Flut von Kürzungen und Liquidierungen von sozialen Leistungen über die Leute herein. Ob bei den Renten, den Krankheitskosten, der Altenfürsorge, dem Arbeitslosengeld, der Zahnmedizin, der Sozialhilfe, überall würde "im Interesse der Verbesserung des Sozialstaates", wie es recht zynisch hieß, gekürzt und gestrichen. Der ganze Prozess wurde den Leuten auf eine so durchsichtig primitiv-demagogische Weise als unabwendbar eingebläut, dass Unruhe entstand. Der Begriff "Abzocke" machte die Runde. Und die sozialen Einschnitte eskalierten. Angeblich wären alle Arbeitslosen ja gar nicht mehr an Arbeit interessiert, sondern nur noch am Einsacken von Fürsorgegeld. Deswegen wurde dann schließlich eine ultimative Schranke in Form eines 14 Seiten umfassenden Fragebogens aufgebaut, in dem vor der Genehmigung von Arbeitslosengeld solche Einzelheiten wie der Besitz von Wertsachen, Bankguthaben oder Datschen zur Untersuchung kamen. Ihren Gipfel erreichte diese Mischung aus empörender Menschenverachtung und kaltschnäuziger Frechheit, als auch noch die Sparbücher von Kindern in die Kontrolle einbezogen wurden.
Die Explosion kam, als West-Bundesbeamte in den Osten abbestellt wurden, um (bei hoher Bezahlung) die Leute hier in der Ausfüllung der Fragebögen zu unterweisen: der oberste Regierer, der gerade wieder mal den Segen pries, den der Sozialabbau im Osten bedeutete, bekam ein faules Ei in seine Richtung geworfen. Woraufhin er hinter dem lauter werdenden Protest sogleich eine Verhetzung durch PDS und Neonazis sah.
Daraufhin gingen Leute im Osten wieder montags zu Demonstrationen gegen die menschenverachtende Praxis der Regierung auf die Straße. Verhetzte, wie der oberste Regierer weiter behauptet. Beweis - in Leipzig seien an so einem Montag auch Neonazis auf der Straße gesehen worden...
Lieber Herr Sp., das Volk hat in solchen Situationen seine ganz eigene Sprache. Mir erklärte ein Teilnehmer an einer Demonstration: "Ich glaube, die Politiker beten Tag und Nacht, dass möglichst immer ein Glatzkopf in Schnürschuhen herumsteht, wenn wir am Montag zur Demo aufbrechen. Sonst platzt ihnen ja selbst die letzte Lüge noch..."
Ich weiß nicht, ob es die letzte ist. Man wird neue erfinden, um eine verfahrene Politik auf Biegen und Brechen weiter durchzupeitschen.
Eins kann ich mit Sicherheit sagen, Herr Sp., mit Undank oder PDS/Nazi-Allianz hat das alles nichts zu tun. Sie wollten die Tatsachen erfahren. Und die entwickeln sich aus dem Schalten und Walten einer bornierten Politikerkaste, der jeder Sinn für Wahrheit, Ehrlichkeit und Anstand abhanden gekommen ist. Undank - nein. Bewahrung der Menschenwürde - ja. Ich bin sicher, Sie werden das genauso verstehen.


Herr Zw. in S.:
Selbst M. Gorbatschow gibt uns Deutschen heute den Rat, nicht so viel zu jammern. Sollten wir vielleicht doch aufhören, unsere Lage zu kritisch zu sehen und uns mehr auf die Zukunft orientieren?

Harry Thürk:
Lieber Herr Zw., ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht, wenn Ihnen verrate, dass ich mein Leben lieber nicht nach den Gebrauchsanweisungen von Mehrzweck-Moralisten einrichte, wie dieser Herr einer ist. Ich hatte schon immer etwas gegen solche Strahlemänner und vorgeblich völlig uneigennützigen Weltverbesserer, weil sie bei näherem Hinsehen meist nicht mehr sind, als von der politischen Meinungslenkungsindustrie jeweils in Saisonfarbe angepinselte, gutbezahlte "Orientierungshilfe-Profis". Sozusagen die global genobelte Variante unserer einheimischen "Integrationsfiguren". Für entsprechende Bezahlung finden sie heute alles richtig oder falsch, und morgen das Gegenteil, je nach Auftrag. (Dieser eine Herr da, dessen weise Bemerkung Sie zitieren, lässt ja aus Versehen selbst die Katze aus dem Sack, wenn er treuherzig ausplaudert, dass "von seinen deutschen Honoraren" sogar Solidaritäts-Beitrag abgezogen wird!)
Auf jeden Fall: er ist nicht zu spät gekommen, und das Leben hat ihn nicht bestraft, sondern mit einem dicken Bankkonto in Auslandswährung belohnt. Damit im Rücken lässt es sich dann trefflich gegen "jammernde Deutsche" schwätzen und ihnen als Alternative "die russische Situation" anbieten. Meint er die seine? Oder die einer Bergmannswitwe mit Rubelrente?
Und: "jammern"? Ist das eine Vokabel, mit der man sich über die Emotionen eines anderen Volkes lustig macht? Ich nenne das nicht mehr Überheblichkeit, sondern Unverschämtheit, und ich persönlich brauche seine Generalgouverneurs-Ratschläge nicht. -
Einige Generationen Deutsche haben seit 1945 wenigstens materiell gutzumachen versucht, was Nazi-Deutschland anrichtete, und wofür wir unter anderem mit der Teilung des Landes bestraft wurden, deren Folgen uns heute noch das Leben schwer machen, ebenso wie der rasante Sozialabbau. Wenn viele Landsleute darüber keine Jubelgesänge anstimmen, so ist das allein unsere Sache, nicht die von geltungssüchtigen Allzweck-Bla-Bla-Lieferanten. Der von Ihnen zitierte Herr wird übrigens in seinem Land inzwischen als "der beste Deutsche in ganz Russland" verspottet.
Was mich an den alten jüdischen Spruch erinnert: "Singen kann ich nicht. Aber sachverständig bin ich!"


Herr W. in St.:
Aus Ihren militärhistorischen Dokumentationen ersehe ich, dass Sie sich in militärischen Dingen auskennen - ist es Ihnen möglich, mir zu erklären, wie es kommt, dass israelische Raketen stets unter hundert Autos im Straßenverkehr genau das treffen, in dem die Person sitzt, auf die sie es abgesehen haben?

Harry Thürk:
Die Präzision, mit der diese Aktionen ablaufen, ist kein militärisches Phänomen, sondern das Ergebnis hochentwickelter Elektronik.
Die Sache verläuft so, dass ein Agent oder Kollaborateur der zum Angriff ausgewählten Person einen sogenannten Zielchip entweder in ihr Auto oder in ihre Kleidung praktiziert. Dieser Chip sendet Impulse aus, auf die der elektronische Suchkopf der Rakete reagiert, die in Richtung des Fahrzeugs abgefeuert wird. Sie sucht ihren Weg zum Ziel selbst.
Die moderne Wissenschaft bringt immer wieder Instrumente und Waffen hervor, die das Töten von Menschen vereinfachen und entpersönlichen. Immer wieder gibt es auch Versuche, hier mit Verboten Grenzen zu setzen, allerdings ohne großen Erfolg. Spätestens seit der Atombombe wissen wir, dass sich wissenschaftlich-technische Fortschritte nicht mehr zurücknehmen lassen. Soviel auch darüber geredet und konferiert werden mag, nüchtern betrachtet bleiben alle solchen Versuche ohne Erfolg. Wer das gefährliche Handwerkszeug einmal besitzt, der benutzt es in seinem Interesse, ohne die "Weltöffentlichkeit" um Erlaubnis zu fragen.
Die Praxis der Raketenangriffe auf Einzelpersonen im Zusammenhang mit militärischen Auseinandersetzungen in der hier geschilderten selektiven Art ist übrigens durch das Völkerrecht verboten (Haager Landkriegsordnung, Artikel 23/b). Es ist bezeichnend für das Ausmaß von Heuchelei, das in der internationalen Politik um sich gegriffen hat, dass solche internationale Abmachungen längst nicht mehr im Sinne eigener Disziplinierung wirksam werden, und waffenstarrende Mächte sie nur noch nach dem Prinzip "Haltet den Dieb!" als taktisches Mittel zur Verschleierung eigener Verletzungen des Völkerrechts benutzen.


Herr W. aus S.:
Ich verfolge in den Medien viele Sendungen oder Artikel über historische Themen. Wie kommt es, dass ich bei Ihnen (z.B. über polnische Geschichte) Tatsachen erfahre, die andere nicht bringen? Haben Sie bessere Quellen?

Harry Thürk:
Nein. Aber ich gehöre nicht zu den Autoren, die mit historischen Tatsachen selektiv umgehen, indem sie lediglich solche zusammentragen, die ihr bereits fertiges Vorurteil stützen, und andere, "unbequeme", einfach unter den Tisch fallen lassen.
Diese Unsitte hat sich ja unter den Bedingungen der Marktwirtschaft zu einem zwar anrüchigen, aber immerhin recht ertragreichen Geschäft entwickelt, wenngleich da durchaus nicht alle Historiker mitspielen. Aber es lässt sich unschwer erkennen, dass die von Parteiinteressen durchsumpften Medien heute immer öfter "Historiker" präsentieren, die ihr Honorar nicht dafür bekommen, dass sie alle Wahrheiten geschichtlicher Prozesse objektiv auflisten. Vielmehr lenken sie das Publikum schon durch die Betonung oder Auslassung bestimmter Fakten zu einer Auffassung, die der Intention ihres Arbeitgebers entspricht. Und so produzieren sie eben nicht ein umfassendes, auf Vollständigkeit fußendes Abbild der Geschichte, sondern weltanschaulich einseitig gezielte Zwecklügen.
Diese Praxis ist nicht etwa neu. Sie wurde und wird in der ganzen Welt von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Systemen geübt. Sie soll nicht dem Zweck dienen, die Geschichtskenntnisse der Bürger zu vervollständigen. Das Publikum soll durch den Auftritt seriös wirkender "Vertreter der Geschichtswissenschaft" in eine Denkrichtung gelockt werden, die den Intentionen der gerade regierenden politischen Partei entspricht. Wer das nicht bemerkt, und wer also die Urteile "erstklassiger Wissenschaftler" übernimmt, die ja "so bedeutend sind, dass sie sogar in Zeitungen und im Fernsehen erscheinen", der fällt auf einen der ältesten Ladenhüter in der Trickkiste der Demagogen herein, die Prominentenmasche.
Was mich betrifft, so kommt bei historischen Analysen jede Tatsache auf den Tisch, selbst wenn sie diesem oder jenem Leser nicht in sein vorgefasstes Weltbild passt. Im Falle der polnischen Geschichte und der Teilungen dieses Landes zwischen seinen beiden mächtigen Nachbarn habe ich das praktiziert. Sie bemerkten es. Ich wünsche Ihnen weiterhin Spürsinn und ein unbestechliches Urteilsvermögen.


Herr S. F. aus Gera:
Halten Sie die neue Regelung der Kombination von Arbeitslosengeld und Sozialfürsorge (Hartz IV genannt) für gerecht?

Harry Thürk:
Nein. Ich halte sie für eine Maßnahme, die den sozialen Standard von sehr vielen Menschen auf ein Minimum senkt. Sie erzeugt in einem Land Armut, dessen oberster außenpolitischer Großsprecher unablässig anbietet, Deutschland würde gern in der weiten Welt "... noch mehr Verantwortung übernehmen." Oder dessen Kanzler in Bezug auf ein paar Tausend Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan und anderswo tönt: "Wir sind da vornedran, mehr als vornedran sein können wir nicht!"
Zu gleicher Zeit senkt er das Lebensniveau der eigenen arbeitslosen Bürger, besonders im Osten, fünfzehn und mehr Jahre nachdem viele Leute auf die Mogelpackung einer für den Kalten Krieg sozial aufgemotzten BRD hereingefallen sind, gegen Null. Und das mit der frechen Begründung, es müsse eben jeder Opfer bringen.
Die größte Unverschämtheit ist für mich aber, dass nun jedem, der um Unterstützung einkommt, die Ausfüllung eines mehrseitigen Fragebogens abverlangt wird, in dem er selbst über die vom Großvater geerbte goldene Uhr oder den Ring der verstorbenen Mutter noch Rechenschaft zu geben hat, bevor man eine Zahlung überhaupt ins Kalkül zieht. Als ich ein Schulkind war, erklärten die Nazis alle Arbeitslosen grundsätzlich zu "faulen Arbeitsscheuen". Und Fragen nach persönlichen Dingen, wie sie heute vor einer eventuellen Stützung zu beantworten sind, kenne ich in dieser erniedrigenden Art nur noch von den "Dazebaos" (den "Großbuchstaben-Wandzeitungen") der chinesischen "Kulturrevolution".
Hätte es die DDR gewagt, ein auch nur vergleichsweise entwürdigendes Fragesystem zu präsentieren - wir hätten heute in jedem östlichen Bundesland eine weitere "Behörde", die sich mit der "Aufarbeitung" dieser Praxis beschäftigt. Nun, die DDR, vielgescholten, hat kein solches Verfahren gekannt, weil es Arbeitslose nicht gab. Soziale Abzockerei und menschenverachtende Datenerpressung sind einer deutschen Regierung vorbehalten geblieben, die nie eine Chance verpasst, andere wegen Verstoßes gegen die Menschenrechte zu belehren, eigene Schweinereien auf diesem Gebiet aber lässig ignoriert, oder mit gestelzten Phrasen auch noch zu Heldentaten erklärt. Besser gesagt: umlügt. -
Was sich heute in unserem Lande in dieser Hinsicht abspielt, lieber Herr F., ist schlichtweg eine Schande: mit dem Instrumentarium der Inquisition werden hunderttausende anständige, schuldlos arbeitslose Menschen unter die Armutsschwelle befördert. Und das, so beschwätzt man sie zynisch, hätten sie gefälligst als "Reform" zu bejubeln, als gute Tat der Regierung, dann dadurch werde "der Sozialstaat gerettet". Außerdem würden damit die Renten für unsere Urenkel gesichert.
Wem da nicht das Kotzen ankommt...


Herr Gr. aus W.:
Ich bin Vertriebener aus dem Sudetenland. Sie auch. Wie stehen Sie zu der Forderung auf Widerruf der Benesch-Dekrete zur Vertreibung an die tschechische Regierung?

Harry Thürk:
Ich bin Oberschlesier. Im Hinblick auf die Vertreibung macht das einen Unterschied, den ich Ihnen erklären will. Zunächst aber: Von der Schaumschlägerei um die Benesch-Dekrete halte ich gar nichts, weil ich grundsätzlich nicht auf solche Kampagnen von "Vordenkern" und "Meinungsmachern" hereinfalle, die hier am Werke sind.
Zur Sache wäre festzustellen, dass die heutige tschechische Regierung sich streng von diesen Vertreibungs-Dekreten distanziert hat. Damit wurden sie zu historischen Dokumenten, die man ja bekanntlich nicht mehr ungeschehen machen kann, ganz abgesehen davon, dass an der Art und Weise der Vertreibungspraxis nach 60 Jahren ohnehin nichts mehr zu ändern ist und Spekulationen auf finanzielle Entschädigungen ja wohl das unvernünftigste Begrüßungsritual für das neue EG-Mitglied Tschechien wären - es handelte sich schließlich nach dem Ausnahmefall Österreich um das erste Land, das Hitler überfiel!
Vom Vorwurf der Schaumschlägerei möchte ich ausdrücklich respektable Buchautoren ausnehmen, die über die mit den Brutalitäten der Austreibung verbundenen persönlichen Tragödien berichten. Das ist nötig. Ich selbst habe ein Buch über diese Praktiken auf der polnischen Seite geschrieben. Mein Buch wurde von einer Zeitschrift in meiner Heimatstadt übersetzt und in Fortsetzungen abgedruckt. Ich erhielt viele Zuschriften, unter denen es keine einzige Ablehnung gab. Der Generationswechsel macht sich da bemerkbar. Die junge, auch schon in den 30ern oder 40ern stehende Generation ist offen für die historische Wahrheit, man kann sie nicht mehr unter der Routinevokabel "die Tschechen" oder "die Polen" mit dem nationalistischen Mob der Vertreibungszeit identifizieren und mit dessen Ausschreitungen. -
Wovor man sich hüten muss, das sind geplante Schaumschläger-Kampagnen wie gegenwärtig die gegen die Benesch-Dekrete. Warum, so muss man fragen, konzentriert die sozusagen durch das Adjektiv "pressefreiheitlich" heilig gesprochene und angeblich so unabhängige Medienmeute ihren ganzen Zorn so sehr auf Benesch und die Tschechen, während sie die ungleich umfangreichere Vertreibung aus Deutschlands Ostprovinzen, eine echte ethnische Säuberung, bei der allein die Toten in die Millionen gingen, doch buchstäblich übersieht? Kann man als Journalist so unaufmerksam sein? Kann man ignorieren, was das Völkerrecht so deutlich über Gebietsveränderungen festlegt? Über Privateigentum in besetzten Gebieten? Über die Inhaftierung (auch in Ghettos) von Privatpersonen? Das alles ist nämlich dem Siegerstaat im Osten schon bekannt gewesen und wurde doch nonchalant negiert. Bis heute. Und niemand aus unserer in Sachen Benesch völkerrechtlich so beschlagenen Medienmeute denkt auch nur daran, ein einziges Wort in dieser Sache zu äußern. Nicht einmal zu flüstern, ganz leise. Warum?
Ablenkung und Verdrängung eines bestimmten Teils der historischen Wahrheit, lieber Herr Gr., das ist es, was hier läuft. Von der Politik in Auftrag gegeben, von den Spezialisten in Werbeagenturen instrumentiert wie Reklame für Milchschokolade oder Slipeinlagen auch, und von den folgsamen Medien als Sau durchs Dorf getrieben. Der Nebel, der sich aus den Benesch-Dekreten quetschen lässt, als Vorhang vor Peinliches, Unbequemes?
Man muss in dieser Gesellschaft, die so viel Wert auf "Aufarbeitung" in Sachen Menschenrechte und Völkerrecht legt, damit rechnen, in eine Reihe mit altbraunen Rechtsextremisten gestellt zu werden, wenn man bei zweckfreier vorurteilsloser Betrachtung der Geschichte feststellt, dass die Führer der westlichen Demokratien in der Anti-Hitler-Koalition ihrem Alliierten Stalin ganz offiziell zugestanden haben, jene Gebiete zu behalten, die er nach dem gemeinsamen Krieg zusammen mit Nazi-Deutschland bei der 4. Teilung Polens kassierte. Widerspruch kam damals von der rechtmäßigen Regierung Polens, die sich im Londoner Exil befand. Er blieb ungehört.
So kam es zu der Absurdität, dass aus der damals zwischen Stalin und Hitler ausgehandelten "Interessenlinie" die heutige (!) Staatsgrenze Polens im Osten wurde.
Für das schäbige Geschäft mit Nazi-Deutschland hat sich Moskau bis heute nicht einmal entschuldigt, geschweige denn die Dokumente, die zu ihr führten, als ungültig erklärt, ganz zu schweigen etwa von einer Wiederherstellung des alten Zustands. Muss das wirklich heute vor jeglicher Diskussion geschützt werden? Vernebelt vom Qualm um die Benesch-Dekrete?
Ist es vielleicht jemandem peinlich, wenn man daran erinnert, wie Stalin im Kreml beim Toast auf den gewonnenen Feldzug gegen Polen (das nach den Bestimmungen des berüchtigten Vertragswerkes mit Nazi-Deutschland übrigens erst jemals wieder ein selbstständiger Staat werden konnte, wenn die beiden Vertragspartner das erlaubten!) leutselig seine Freude darüber ausdrückte, dass "die Freundschaft zwischen Russen und Deutschen nun auch mit gemeinsam vergossenem Blut besiegelt worden sei"? Da konnte nach Lage der Dinge doch wohl nur polnisches Blut gemeint sein... Oder?
Das war 1938/39, Herr Gr. Warum nun soll nach dem Willen der Politik heute darüber möglichst niemand sprechen, sondern über die Benesch-Dekrete? Man kann es partielle Geschichtsverdrängung nennen, ein Verfahren, das so alt ist wie die Menschheit. In unserer Gegenwart lässt man einen Querdenker auf diesem Gebiet ganz schnell spüren, was man von seinem Streben nach Redlichkeit hält, weil er ganz unversehens nämlich zum Störenfried einer Idylle wird, wenn sich deutscher Kanzler und russischer Präsident küssen. In Moskau, Petersburg oder in Hannover, wo der Präsident mit Frau, Balalaikaorchester und Kosakenchor zum Geburtstag seines deutschen Freundes anreiste. Was die Mehrzahl unserer unbeeinflussbaren, ungelenkten Medien einfach verpasst zu haben schien? Oder als nicht so wichtig? Keine Schlagzeile wert? Das Wort von dem, der seine Hose mit der Kneifzange anzieht, und dem man das vielleicht erzählen kann, drängt sich mir dabei auf...
Nein, Herr Gr., mir sind das ein paar konstruierte Zufälligkeiten zuviel, verglichen mit der "Empörung" über die längst zu historischen Papierblättchen gewordenen tschechischen Dekrete. Und ich verstehe das Misstrauen einiger polnischer Freunde, die sehr gut wissen, wer Polen in seiner Geschichte vier Mal unter sich aufgeteilt hat. (Ihr Präsident ist übrigens ja nicht in der Gefahr, vom Moskauer Präsidenten geküsst zu werden. Ebensowenig wie vom deutschen Kanzler!)
Für sie ist die neue "Achse" Paris-Berlin-Moskau nichts, worüber man sich besonders freut. In deutschen Medien ist diese Distanz ja bereits pflichtschuldigst als notorisches Querulantentum abqualifziert worden. Altmodisch wie der Weizenanbau und das Melken mit den Händen...
Wenn man es in schöner Gemeinsamkeit überhaupt zur Kenntnis nimmt, Herr Gr., denn gelogen und manipuliert wird in diesem Metier keinesfalls nur mit dem was man sagt oder schreibt - nein, ebenso wird mit dem gelogen, was man ignoriert. So läuft das. Ohne Rotstift und Zensor. Aber mit der Gefahr des "Blauen Briefes" im Rücken, und der drohenden Kündigung.
Nein, Herr Gr., der Trubel um die Benesch-Papiere ist mir zu verlogen, um mich zu beeindrucken. Tatsächliches Engagement für Vertriebene, die für ganz Deutschland zu leiden hatten, und die den höchsten Preis für Hitlers Mordkrieg zahlten, sieht anders aus!


Herr D.A. in Qu.:
Herr Thürk, Sie leben in Weimar. Dort soll im Oktober, wie ich höre, über die Rückgabe der in die SU verbrachten deutschen Kunst (Beutekunst) verhandelt werden. Rechnen Sie mit einem positiven Ergebnis?

Harry Thürk:
Nein. Schon die Benutzung des Begriffs "Beutekunst" lässt vermuten, dass diese Beauftragten, die sich da treffen, einfach nicht kompetent sind. "Beute" ist ein Begriff aus der Zeit der Reiterhorden Dschingis Khans, als Kriege eben noch Raubzüge waren. Seit 1899 gibt es die völkerrechtlich verbindlichen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung. In denen ist nirgendwo die Rede von "Beute". Statt dessen werden in Artikel 23 "Plünderungen" als völkerrechtswidrige Akte erkannt.
(Um keine Missverständnisse aufkommen zu lasen: ich kenne das Ausmaß der Verbrechen deutscher Okkupanten in anderen Ländern sehr genau. Allerdings glaube ich, sie geben keiner Siegermacht die Erlaubnis, das Völkerrecht zu ignorieren. Und darin kommen auch Entschuldigungsvokabeln wie "Vergeltung" oder "Wiedergutmachung" im Zusammenhang mit Plünderungen nicht vor.)
Moskau ist in dieser Angelegenheit in einer unangenehmen Lage. Zumal dort, um Rückgabeforderungen bequemer abblocken zu könnenm, die deutsche "Beutekunst" durch ein spezielles Gesetz zu russischem Eigentum erklärt wurde. Bis heute hat es der neue Staatschef, der nach Meinung mancher Leute das Land geradewegs in die Demokratie führt, noch nicht fertig gebracht, dieses völkerrechtswidrige Spezialgesetz abzuschaffen. Da von Seiten der deutschen Administration auch keine Bemühung sichtbar wird, das zu verlangen, ist jede Hoffnung auf eine Lösung des Problems "Beutekunst" verfrüht.
Inzwischen profitieren alte und neue Nazis in Deutschland von der amtlichen Bekanntgabe, dass sich in Russland 4,5 Millionen verschleppter deutscher Kunstobjekte befinden, während die Zahl der aus Russland nach Deutschland verschleppten ca. 1.500 beträgt. Von rechten Stammtischen steigt die Schlagzeile auf: "Da sieht man es wieder: dreitausendmal soviel wie wir bei ihnen haben sie bei uns geklaut!"
Ich fürchte, auch das wird zu nichts führen, was als Lösung des peinlichen Problems angesehen werden könnte. Man wird im Oktober hier in Weimar viel reden, wird den Leuten erzählen, Staaten wären Freunde, Promis (15.000 Euro pro Auftritt) werden sich öffentlich küssen, man wird beschwören, auf dem rechten Weg zu sein, und ich würde mich nicht wundern, wenn ein Kosakenchor eingeflogen wird, um auf dem Goetheplatz das Rennsteiglied zu singen. Deutsch.
Wenn Sie das als positives Ergebnis betrachten wollen, Herr A., bitte! Mehr wird es nicht geben.


W. St. aus H.:
Sie sind Vertriebener wie ich. Deshalb wüsste ich von Ihnen gern, ob das was der Bundeskanzler bei den Gedenkfeiern zum Warschauer Aufstand zum Verhältnis der Deutschen zu Polen und umgekehrt sagte, Ihre Zustimmung findet.

Harry Thürk:
Lieber Herr St., Deutsche und Polen sind nach Meinung kompetenter Historiker die am meisten belogenen Leute in Europa. Auch über den Warschauer Aufstand sind - wie über den Umgang der westlichen Anti-Hitler-Alliierten mit dem von Stalin und Hitler 1939 gemeinsam überfallenen und unter sich aufgeteilten Land Polen überhaupt - so viele gezielte Lügen und rhetorische Nebelschwaden verbreitet worden, dass Widerlegung und Durchblick den Rahmen, in dem ich mich hier bewegen kann, sprengen würden. Wenn Sie an diesem Teil der europäischen Geschichte ernsthaft und über den Tag hinaus interessiert sind, empfehle ich Ihnen deshalb als Lektüre das unlängst erschienene Buch des englischen Autors Norman Davies "Aufstand der Verlorenen" >Der Kampf um Warschau 1944<, das soeben in deutscher (und polnischer) Sprache erschien. Besser als ich es in gedrängter Form könnte, legt der Polen-Spezialist alle die Tatsachen auf den Tisch, aus denen sich das äußerst komplexe Bild schier unglaubwürdig erscheinender politischer Schurkerei zusammensetzt: Von Stalins Pakt mit Hitler, den Polens KP-Führung nicht mitmachte, weswegen sie nach Moskau bestellt und erschossen wurde, über die ein Jahr später nach dem gemeinsamen Krieg erfolgte Aufteilung des Landes, der Deportation von einer halben Million Einwohner nach Sibirien, der Ermordung von 20.000 Offizieren (u.a. in Katyn) und Beamten, der Partisanenbekämpfung gemeinsam mit der Gestapo, bis Hitler dann die SU überfiel und Stalin zum Alliierten Churchills und Roosevelts wurde, die vorher zwar Zeter und Mordio geschrien hatten, wenn irgendwo auch nur eine kommunistische Maus piepte, die Stalin aber jetzt nicht nur kritiklos die Hälfte Polens überließen, die aus dem Geschäft mit Hitler stammte, sondern noch deutsches Gebiet bis zur Oder schenkten, damit er unter Benutzung in Moskau ausgebildeter, verlässlicher Leute (Lubliner Komitee) "Volkspolen" gründen konnte...
Dies alles und vieles mehr muss man wissen, wenn man sich überhaupt mit dem Warschauer Aufstand beschäftigen will, in dem die legale polnische Regierung, im Londoner Exil lebend, die von den Alliierten weder über ihre Manipulationen mit Stalin konsultiert, ja nicht einmal informiert wurde, auf eine verzweifelte Art in Warschau beweisen wollte, dass es sie noch gab. Die deutschen Truppen schossen die Todesmutigen zusammen. Warschau wurde eingeebnet. Die Sowjetarmee parkte am jenseitigen Weichselufer, konnte angeblich wegen Nachschubproblemen nicht helfen. Und die egoistischen West-Alliierten, denen Stalin gern zugesagt hätte, dass er weiterhin unter hohen Verlusten (die Churchill und Roosevelt vermeiden wollten) die Hauptlast des Krieges tragen wolle, wachten erst auf, als die Sowjetarmee an der Elbe erschien. Da zogen sie erschrocken die Notbremse, die hieß ... "Kalter Krieg" ...
Lieber Herr St., entschuldigen Sie bitte diese unvollständige Faktensammlung - ich führte sie ja nur auf, um meine Leseempfehlung an Sie zu unterstützen. Was die Verlautbarungen des Kanzlers in Warschau betrifft, so ist er auf die Demagogie von politischen Spekulanten hereingefallen, die es in Polen gibt, wie man weiß, und die ihr eigenes Süppchen auf dem Feuer "deutsches Tätervolk" zu kochen pflegen. Das zieht immer noch. Ein geschichtsbewusster Deutscher hätte sie aufmerksam machen sollen, dass die Antifaschisten dieses "Tätervolks", Breitscheidt, Thälmann, Pfarrer Schneider und viele andere bereits sechs Jahre früher in die KZ's der Nazis gesperrt wurden, als ihre polnischen Gesinnungsgenossen. Ich selbst habe sehr gute Freunde in beiden Zeitphasen verloren, nicht zuletzt deshalb beuge ich mein Haupt vor den Opfern, nicht aber vor Demagogen, die drauf und dran sind, das Verhältnis unserer beiden Völker erneut zu vergiften.
Gegen Restitutionen, Rücksiedlungstheorien und ähnlichen Unfug, der in den Warschauer Äußerungen des Kanzlers eine Rolle spielte, bin ich grundsätzlich. Polen hat bei den Entscheidungen über die Gebietsverschiebungen keinen Anteil gehabt; weder in Teheran, noch in Jalta, Potsdam oder sonstwo gab es auch nur polnische Beobachter. Wie käme das heutige Polen dazu, für Entscheidungen, die von den damaligen Alliierten in deren Interesse untereinander ausgemacht wurden, zu bezahlen? Auch wenn man schon polnischen Schulkindern jahrzehntelang aus Vertuschungsgründen den Flachsinn einbläute, Deutschlands Ostprovinzen wären ja ohnehin stets polnisch gewesen und nur "rückgeführt" worden. Und wenn deutsche "Gutmenschen" das heute noch nachlabern, nur um der Chance willen überhaupt wieder mal öffentlich in Erscheinung treten zu können - ein Kanzler sollte mehr Sachkenntnis haben, ehe er mit Auftritten vor Gerichten gegen eigene Landsleute droht.
Was seine erbärmlichen Auslassungen angeht ("... falsche Leute stellten zur falschen Zeit die falschen Fragen..." etc.), so sehe ich natürlich ein, dass dieser Politiker nicht in der Lage ist, nachzuempfinden, worum Vertriebene von damals trauern, und weshalb sie eine Gedenkstätte für das Betrauerte haben wollen. Diesen Wunsch mit Extremismus auch nur in Verbindung zu bringen, ist eine Beleidigung aller jener, deren Angehörige zu jener Zeit an den Wegrändern der Vertreibung liegen blieben, schon tot oder langsam sterbend, an Hunger, Krankheit, zerschlagenen Knochen, ohne dass es weit und breit jemanden gegeben hätte, der sich ihrer erbarmte. Dies ist alles andere als eine Anklage gegen Polen, nein, denn jenen Millionen Polen, die aus ihren eigenen Ostprovinzen vertrieben wurden, ging es genauso. Deshalb wäre die Idee eines gemeinsamen Gedenkzentrums für die Opfer der größten Vertreibung des vergangenen Jahrhunderts auch nicht absolut unbrauchbar, nur dass sie meiner Meinung nach erst in der nächsten oder übernächsten Generation realisierbar sein würde...
Dass der Kanzler für dieses emotionsschwere menschliche Anliegen keine angemessenen Worte findet, sondern nur hohltönendes Blabla, mag daran liegen, dass er als zartes Baby im schönen Niedersachsen eben keine Besatzungssoldaten um sich hatte, denen noch die Tiraden Ehrenburgs ("Für uns gibt es nichts lustigeres als deutsche Leichen!") in den Ohren dröhnten und die nicht einmal im Traum darauf gekommen wären, die Kinderklapper oder den Hampelmann eines deutschen Kindes als "Beute" nach Hause zu schicken - die vielmehr für Schokolade sorgten, für Bananen...
Klug wäre es gewesen, wenn er geschwiegen hätte, statt, wie man in einer Berggegend von Laos, die ich lieb gewann, zu sagen pflegt: "... den Trauervogel zu verjagen." -
Ein bisschen zu ausführlich vielleicht, meine Antwort, Herr St. Trotzdem am Schluss noch eine Beobachtung, die ich für nachdenkenswert halte: Der amerikanische Militärpfarrer Mahedy sagte: "Wie Pontius Pilatus wuschen sich die Bürger der USA diesen (Vietnam-)Krieg von den Händen und beruhigten ihr Gewissen, indem sie die Veteranen wie Aussätzige behandelten..."
Ich hätte mir als Vertriebener gewünscht, wenigstens ein einziges Mal von einem Landsmann aus dem glücklicheren Westen zu hören: "Verloren haben wir diesen verdammten Krieg beide, aber bezahlt habt ihr ihn!" Ich habe das nie zu hören bekommen. Umso deutlicher erinnere ich mich immer noch an das, was im Sommer 1945 ein aus seiner Heimat Ostpolen Verjagter zu mir sagte: "Verloren haben den Krieg, ebenso wie sie ihn anfingen, die deutschen Faschisten. Aber bezahlt haben ihn Vertriebene wie du und ich." Und nun haben seine Enkel und ich eine gemeinsame Heimatstadt. Ich halte diese Art von Gemeinsamkeit für nachdenkenswerter als das erbärmliche Geschwätz von "... den falschen Leuten, zur falschen Zeit, und ..."


Herr St. in S.:
Im Kreise meiner Freunde und Bekannten habe ich niemanden finden können, der die Kürzungen bei Renten und andere soziale Abstriche als richtig und gerecht bezeichnet. Nun werden mir in unserer Lokalzeitung fünf Personen (mit Bild) vorgestellt, von denen halten drei die Abstriche für absolut gut und gerecht, einer äußert eine Art "Jein", und nur eine Frau zweifelt daran, dass die Kürzungen richtig sind, sehr leise nur. Wer irrt da? Ich oder die fünf Vorgeführten?

Harry Thürk:
Sie irren nicht, Herr St. Denn man muss zuallererst immer dem trauen, was man selbst herausfindet. Vertrauen, das man anderen leichtsinnig schenkt, wird heute allzu oft missbraucht. -
Ich kenne die Zeitung, von der Sie schreiben, und ich habe die fünf "Stimmen aus dem Volke" auch gesehen. Diese Vorführung ist ein Teil jener von PR-Spezialisten psychologisch zielsicher praktizierten Technik, mit deren Hilfe das Selbstvertrauen des Bürgers in die eigene Urteilsfähigkeit abgebaut und er dann zum Objekt der Meinungsmanipulation gemacht wird, indem er sich der ihm geschickt präsentierten "Mehrheitsmeinung" anschließt. In dem von Ihnen geschilderten Falle findet er am Ende den ihn selbst schädigenden Sozialabbau auch noch gut und richtig! -
Die Praxis ist übrigens nicht so sehr neu. Nicht einmal bei der Zeitung, die Sie anführen, und die es ja in der DDR bereits (natürlich unter anderem Namen) gab. Ich erinnere mich, dass es eine ganz ähnliche Parade von politisch-korrekten "Volksstimmen-Darstellern" gab, als einer meiner Freunde, der bei der HO arbeitete, wegen angeblich achtlosem Umgang mit Volkseigentum zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Danach befanden fünf ähnliche "Sprecher des Volkes" in einer Bilderleiste der Zeitung, das sei eine zu milde Strafe, es fehle die "Signalwirkung"; gebraucht würde hier ein "Piloturteil" usw. (übrigens Vokabeln, die ich mit Verwunderung heute schon wieder lese!) Mein Freund bekam daraufhin eine neue Verhandlung: sieben Jahre lautete das "Piloturteil". Er verbrachte sie in Gräfentonna. Die fünf Volksgestalten hatten ihre Forderung natürlich nicht von sich aus erhoben. Weil die regierende Partei es von ihnen verlangte, hatten sie sich der "Parteidisziplin" (wie das heute auch schon wieder genannt wird) gefügt und "ihre Stimme erhoben".
Ich höre in diesem Augenblick den Einwand, man könne doch Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Tue ich das? Ich darf doch wohl einen Apfel essen, und danach eine Birne, und anschließend darf ich feststellen, dass mir die Birne besser geschmeckt hat - was ist daran unzulässig?
Es ist übrigens auch nicht unzulässig, daran zu erinnern, dass die heute federführende Regierungspartei traditionell erhebliche Gelder in Zeitungen investiert. Im Osten der BRD gehören ihr z.B. von der "Südthüringer Zeitung" 30%, vom Suhler "Freien Wort" ebenfalls 30%. Bei der "Sächsichen Zeitung" sind es schon 40%. Es wäre doch wohl äußerst naiv, zu glauben, dass die Redakteure da nicht ein bisschen Rücksicht auf die Interessen ihrer Anteilseigner nähmen. Oder?
Was solche Manipulationen wie die von Ihnen geschilderte auf lange Sicht bewirken, hat Frau Prof. Dr. Elisabeth Noelle-Neumann im Klartext festgehalten, als sie sagte: "Was Sie heute in den Köpfen der Menschen finden, ist oft gar nicht mehr die Realität, sondern eine von den Medien konstruierte, hergestellte Wirklichkeit." Sie weiß, wovon sie spricht, denn sie ist die Urahne der Meinungsforschung in Deutschland überhaupt...
Und Herbert Riehl-Heyse, seinerzeit Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", der wegen der Unbestechlichkeit seines Urteils nie Eingang in die Garde der unermüdlich vorgezeigten "Prominenten" fand, ihn wohl auch nicht suchte, schrieb in einer Studie, die man Mühe hat, zu finden, so gut wird sie verwahrt (!): Siebzig Prozent aller Informationen, die in Zeitungen stehen oder von Rundfunk und Fernsehen verbreitet werden, sind "gezielte Informationen". Sehr wahr.
Auf Sie gezielt, lieber Herr St., wenn es um Ihre eigene Meinung und Erfahrung geht, dann lassen Sie sich besser nicht von den Manipulationen der Medien irritieren. Bei diesen Anlageobjekten des Parteienkapitals ist Redlichkeit keineswegs automatisch vorauszusetzen, wie das Naiven immer wieder vorgegaukelt werden soll. Das eigene Urteil ist das ehrlichste.

P.S. Ich glaube übrigens, dass angesichts der kaum noch einzugrenzenden Möglichkeiten zur Irreführung, die das moderne Medienwesen heute hat, sich die Überlegung aufdrängt, wann endlich die kriminelle Meinungsmanipulation ihren Platz im Zivilstrafrecht bekommt. Und im Lichte der Medienlügen, die ganze Nationen (etwa für einen "Krieg gegen Massenvernichtungsmittel") zu brüllendem Einverständnis beim Bruch des Völkerrechts treiben konnten, entsteht auch international die Notwendigkeit, zu handeln. Der kriminellen Nutzbarkeit moderner Massenmedien Grenzen zu setzen.


E.W. in S.:
Warum nehmen Sie nicht an Talkshows teil? Und warum haben Sie nicht versucht, als Politiker zu arbeiten? Oder haben Sie?

Harry Thürk:
Wegen meiner Erkrankung könnte ich an Talkshows nicht teilnehmen. Ich bezweifle allerdings, ob ich mir das zu einer Zeit, als ich es noch gekonnt hätte, zugemutet haben würde. Zum Glück lud man mich damals nicht ein. Heute hat sich meine anfängliche Meinung über diese Veranstaltung verfestigt, so dass ich Ihnen freimütig gestehe: ich halte diese Art von politisch-korrektem Stammtischgeschwätz für eine der vielen von Kennern der menschlichen Psyche ausgetüftelten und den regierenden Politikern zu gutem Preis verkauften Methoden, die ehrlichen Absichten von Bürgern, sich am politischen Leben zu beteiligen, in eine Folklore-Veranstaltung münden zu lassen.
Wer zu einer solchen Schwatzrunde eingeladen wird und nach welchen Gesichtspunkten die Auswahl geschieht, durch "Verantwortliche", deren politische Bindung unbekannt bleibt, ist ein mit schnippischer Argumentation gehütetes Geheimnis. Und so kann einer, der doch einmal die Chuzpe hat, eine unbequeme Analyse der Realität zu präsentieren, eben sicher sein, dass ihn eine Runde umgibt, die ihn sofort mit einer so rabulistischen Demagogie "widerlegt", dass er zuletzt auch in der Empfindung des arglosen Publikums als jemand dasteht, "an dessen Beispiel man sehen kann, wie bei uns eben ja auch völlig abwegige Ansichten zu Wort kommen..."
Dass Toleranz gegenüber solchen verlogenen Veranstaltungen letztlich die Substanz der Demokratie zerstört, wollen "die Verantwortlichen" nicht hören; ihnen geht es lediglich um die propagandistische Zuarbeit für die jeweilige Regierung. -
Ein anderes Beispiel, über das es sich lohnt, nachzudenken, wenn man sich über die Folklorisierung politischer Tätigkeiten unterhält, ist die Manipulierung des Rechtes auf Demonstrationsfreiheit. Nicht dass etwa Verbote ausgesprochen werden, nein, nein, das geht mit Hilfe der Psychotrickser viel eleganter! So sind beispielsweise Studentendemonstrationen gegen den Sozialabbau im Bildungswesen sehr ärgerlich. Was tun? Man lässt auf geeignete Weise unter den aufgebrachten Studenten den Gedanken verbreiten, Demo normal sei doch witzlos, da gucke keiner mehr hin. Damit die Leute gucken, müsse man splitternackt demonstrieren! Was dann ja auch geschah. Lustige Veranstaltung. Über den schönsten Hintern diskutiert man in dem Landtag, von dem ich spreche, noch heute. Was auf den Plakaten stand, erinnert man nicht mehr. Vermutlich wird man, wenn diese Dummheit sich wiederholt, Eintritt erheben...
Aber wehe wenn Gewerkschaften und Verbände von Rentnern, deren Hintern nicht mehr so ausgesprochen attraktiv sind, gegen Sozialabbau und untragbare Kosten im Gesundheitswesen und an vielen anderen Orten diszipliniert und ernsthaft demonstrieren, in Berlin allein eine Viertelmillion! Das ist gefährlich. Regierungspolitiker, die sich "rot" und "sozial" nennen, haben da keine Antworten, von Sonnabend bis Montag. Es gibt keine Stellungnahme der Regierung auf 250 000 Fragen in Berlin und ein Mehrfaches dieser Menge allein in zwei westdeutschen Großstädten. Peinliches Schweigen. Aber nur bis Montag. Da tilgt eine urplötzlich losgebrochene Kampagne im Nu alle Erinnerung an die leidigen Demos: ein Hochverdiener aus einer Institution, die der Regierung untersteht, wird von der gesamten Medienmeute in unfassbarer Einheit der Meinung, ohne auch nur die geringste Einschränkung so zusammengeboxt, dass es eine Freude ist, wie so ein Übeltäter mal kriegt, was er verdient. Die Moral trieft nur so aus allen Zeilen, aus jeder TV-Nachricht. Grund der Aufregung? Sage und schreibe ca. 7.000,- Euro, die der Herr unberechtigt als Spesen abrechnete!
Darüber war der Sonnabend mit seinen unbequemen Demonstrationen Bekleideter gegen die wachsende Verarmung sogleich vergessen. Es gab ja die neue Sau, die durchs Dorf getrieben wurde. Und über die äußerte sich der frisch gekürte Chef der Regierungspartei etwas später nicht, was da der Hintergrund war, werden wir wohl erst nach der Verabschiedung der Europa-Verfassung erfahren, schwant mir aus Erfahrung. Nein, da sprach der SPD-Chef nicht drüber. Aber er erklärte, die Gewerkschaften (wohl mit Blick zurück im Zorn auf den Sonnabend) würden nur immer "dem Volke nach dem Mund reden", und dadurch vernachlässigten sie ihre "Führungsrolle".
"Führungsrolle" - wo hatte ich das zum letzten Mal gehört? Muss in meiner Schulzeit gewesen sein. War auch kein Sozialdemokrat, der das damals sagte. Die saßen um diese Zeit in braunen KZ's...
Zum zweiten Teil Ihrer Frage: es hat mich immer interessiert, Politik zu beobachten und ihre Hintergründe herauszufinden, aber selbst Politik zu betreiben, reizte mich nie. Für das Desinteresse gibt es im Wesentlichen subjektive Gründe, es ist also nicht als Anregung für andere zu verstehen. Allerdings haben dazu eine Anzahl Sachverhalte sicherlich beigetragen, die ich Ihnen gern benenne.
Wir haben in Deutschland eine Parteiendemokratie. Zwei große Verbände, die sich "Volkspartei" nennen, mit jeweils einem kleinen Grüppchen als Mehrheitsbeschaffer. Ein eingefahrenes System, das es erforderlich macht, darin einen Platz zu suchen, wenn man politisch aktiv tätig werden will. Da fängt für mich die Problematik an. "Schwarz / Gelb" käme ohnehin nicht in Frage. Bliebe "Rot / Grün". Unter "Rot" läuft hier die Sozialdemokratie. Und da geht für mich das Problem weiter. Um Missverständnissen vorzubeugen: Deutschland ist ganz fraglos ein demokratischer Staat. Doch das sind die USA ebenso unbestritten. Wenn man allerdings ihre Politik betrachtet, kommen da erhebliche Probleme auf. Gerade in der großen, traditionellen Demokratie Amerika zeigt sich nämlich, auf welch fatale Weise ein so eingefahrenes System durch Persönlichkeitseinfluss, Gruppeninteressen und von außen bewerkstelligte Faktoren Gesicht und Substanz bis zum Irrwitz verändern kann.
Ich sehe für Deutschland bei illusionsloser Betrachtung der Politik eine ähnliche, wenn auch in der Weltdimension nicht vergleichbare Gefahr. Sie ist bereits fortgeschritten. Ich erinnere mich an den Ausspruch des neu gewählten Vorsitzenden der federführenden Regierungspartei: "Wir müssen den Kapitalismus zivilisieren!"
Nun ist "Wir müssen..." ja eine der gängigsten politischen Bla-Bla-Formeln. Trotzdem würde mich schon interessieren, wie der Mann sich "zivilisierten Kapitalismus" vorstellt. Aber ich habe den Verdacht, das weiß er selbst nicht. Wie alle anderen Denkfaulen oder Denkunfähigen in dieser Regierung wird er sich für einen dreistelligen Millionenbetrag eine Agentur suchen, die ihn berät. In einschlägigen Kreisen nennt man diese politisierenden Reklamelügner, die jede Menge schmutzige Tricks auf Lager haben, "den bewaffneten Arm des Kapitals". So dass sich also der Chef der "linken" Regierungspartei von einem Manipulationsorgan des Kapitals sagen lassen wird, wie dieses zu zivilisieren ist.
Eine schizophrene Vorstellung? Aber nein! Das geschieht ja bereits laufend! Von den "deutschen Interessen im Hindukusch" über die "Sicherung der Renten für unsere Enkel" (in 50 Jahren!) durch Kürzung der heutigen, bis zu der Notwendigkeit, länger zu arbeiten (wenn man Arbeit hat!), damit neue Arbeitsplätze entstehen - alle diese Weisheiten der "Berater" werden im Programm einer linken Regierung als "Reformen" realisiert, und dann wundern sich die Macher, dass diese Politik bei der Bevölkerung nicht mehr ankommt. Dass man sie als Sozialabbau, Abzockerei und schlicht als Humbug empfindet. Bestenfalls noch als Unfähigkeit. Selbst in der eigenen Partei finden sich Leute, die sich verpflichtet fühlen, an das Parteiprogramm zu erinnern und an den Wählerauftrag. Mit dem Erfolg, dass die "Modernisierer" sie als Anhänger völlig veralteter Vorstellungen von linker Politik abwatschen. Es geht nur noch um die einmal mit völlig anderen Versprechungen errungene Macht und deren Erhalt. Dazu wird nun unter sachkundiger Beratung durch den "bewaffneten Arm des Kapitals" eine bunte Girlande aus Lügen, Betrug, faulen Ausreden, Korruption und Täuschungen aufgehängt, als erprobtes Mittel gegen nüchternen Durchblick.
So läuft dieses Spiel. Selbst unter günstigsten persönlichen Umständen wäre mir nicht eingefallen, mich daran zu beteiligen. Da lasse ich mir lieber Distanz ankreiden. Meine Fähigkeiten liegen im Erkennen und Benennen von Fakten und Hintergründen. Damit kann ich der Demokratie in unserem Land nützlicher sein, als wenn ich mich für monatliche 10-12000 Euro bereit erklärte, "Parteidisziplin" an mir zu exerzieren und mich "auf Vordermann" bringen zu lassen!


Frau D. aus N.:
Bei einer Freundin sah ich ein Buch von Ihnen. Sie bezeichnete Sie als "Querdenker". Akzeptieren Sie dieses Urteil?

Harry Thürk:
Wenn damit das gemeint ist, was ich als Denk-Sport betreibe, dann ja. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: Neuerdings veranstalten Politiker und politische Spinner wieder mal großen Radau um Schadstoffemission in die Atmosphäre. Begrenzungen sind in der Debatte, Strafzahlungen, Bonussysteme - der Teufel soll aus dem fein geschlagenen Schaum noch klug werden! Ich denke nach: Wenn schon über Schadstoffemission in die Atmosphäre geredet wird, warum dann nicht über wirklich gravierende Beispiele, warum über vergleichsweise lächerliche Mengen? Will heißen: ein einziges Flächenbombardement setzt Schadstoffmengen in die Luft ab, die wohl mit einem Taschenrechner schon nicht mehr zu erfassen sind. Wenn die (amerikanischen) Statistiker richtig gezählt haben, dann findet (noch ist er ja nicht aus!) im Irak gegenwärtig der 69. Krieg der USA seit 1945 statt, mit etlichen Flächenbombardements täglich. Angesichts dieser Sachlage finde ich es verlogen, über FCKW in Asthmasprays zu diskutieren oder über Rauch aus Schornsteinen, es ist wie wenn man die Prise Salz fürs Frühstücksei mit dem Inhalt der Weltmeere vergleicht: Krach auf dem Balkon, um das Feuer in der Wohnstube zu vertuschen. Heuchelei letztlich, denn jeder kennt die Mengen, die da im Spiel sind. Der Querdenker lässt sich nicht gedankenlos in eine beliebige solche Debatte einbinden - er denkt selbst und stellt auch seine eigenen Fragen. In diesem Falle: Wer will hier warum und von wem die Aufmerksamkeit ablenken, um die Erörterung des tatsächlichen Problems, das durch 69 Kriege entstand, auf ein belangloses, nur künstlich aufgeplustertes Nebengebiet abzulenken?
Natürlich wird jetzt sofort das übliche Dutzend Gutmenschen zetern: Man kann doch nicht den Dreck von Bomben, die für den geheiligten Zweck der Menschenrechte geworfen werden, mit schnödem Schornsteinrauch oder Autoabgas vergleichen..! Ein Querdenker kann das. Genau damit macht er ja die Heuchler hilflos, weil ihre "Argumente" zu faulen Ausreden werden. -
Noch ein Beispiel gefällig? Bitte! 1989/90, als man für Geld plötzlich alles haben konnte, vom abgewickelten VEB über den emigrierten Staatsratsvositzenden bis zur kompletten DDR, erwarb der amerikanische Geheimdienst CIA die Namensliste des DDR-Auslandsspionagedienstes, gab ihr den duftigen Namen "Rosenholz-Datei", beschäftigte sich zehn Jahre damit und übergab dann den Verbündeten von der BRD-Papierschnitzelbehörde großherzig eine abgetippte Version mit einem unbedeutenden Schönheitsfehler: US-Schreibmaschinentypographie kennt keine Umlaute. Also machten sich gewisse Arbeiten daran nötig, um die ehemaligen DDR-Auslandsagenten (mit ä, ü, ö usw.) identifizieren zu können. Soweit die offizielle Erklärung dazu. Und: ein wahrlich gefundenes Fressen für jeden fortgeschrittenen Querdenker. Peinlich, was ich da sofort an Fragen hatte.
Muss man CD's, wenn man Kopien braucht, wirklich abtippen? Kennt da nicht der aufgeweckte Grundschüler schon technisch einfachere Methoden? (Etwa bei Musik-CD's!) Und wenn schon abtippen: Will man einer arglosen Menschheit wirklich einreden, ausgerechnet die CIA verfüge in ganz Langley nicht über eine Schreibmaschine deutscher Typografik (mit Umlauten)? Eine Behörde, in der binnen einiger Sekunden bekanntlich die Schriftbilder sämtlicher Schreibmaschinenmarken aus aller Welt identifiziert werden können! Wo sich selbst Schriftzeichendrucker der chinesischen Sprache befinden...
Ungereimtheiten, wie sie das Herz eines jeden echten Querdenkers höher schlagen lassen. Weil sich sofort die Frage auftut, warum hier gelogen wird, und dazu noch so dumm.
Die Antworten sind nicht schwer, aber ernüchternd. Für einen Geheimdienst sind Namensdateien brisantes Kapital, daher ist verständlich, dass an die deutschen Verbündeten nur eine um die "brauchbaren" Adressen reduzierte Version gehen konnte. Das erklärt die Notwendigkeit des Abtippens. (Mit dem zwar wohlfeilen, aber doch leicht idiotischen Ablenkungsfaktor "Umlaute"). So ging der für die CIA nicht brauchbare - oder von ihr geschickt um Leute, an deren Verfolgung durch deutsche Behörden sie interessiert sind, ergänzte - Rest der ursprünglichen Datei über den großen Teich: Freundschaftsgeschenk - "So, nun bewältigt mal schön!"
Man könnte es dabei belassen, dass man nun fröhlich grinst: "Nachtigall, ich hab dir trapsen gehört, ätsch!" Aber da ist diese unglaubliche Primitivität der verwendeten Lügen. Ist man selber so primitiv, dass einem nichts Besseres einfällt? Oder stuft man den IQ seiner Partner so etwa um die 60 herum ein, eine Position, neben der in den Statistiken "debil" steht?
Ich persönlich tippe auf letzteres. Wenn ich mir ins Gedächtnis rufe, wie nach den "Aufklärungsergebnissen" der CIA Bin Laden in einer Höhle am Hindukusch (bei Kerzenlicht wohl) an der Atombombe bastelt, wie Saddam "Massenvernichtungsmittel" in der Wüste versteckt oder Bio-Waffen in Lastwagen aus Korbflaschen in Ampullen abfüllt - man könnte die Aufzählung solcher "Perlen" lange weiterführen - dann komme ich zu dem Ergebnis, die CIA setzt die gezielt betriebene Idiotisierung der Weltbevölkerung als bereits vollendet voraus. Inwieweit sie hier irrt, das sollte sich jeder Zeitgenosse selbst fragen...
Ein weites Feld für Querdenker hat sich in unserer Welt aufgetan. Je mehr der arglose Bürger zum Gebrauchsgegenstand von Regierungen gemacht wird, ohne es zu merken, desto interessanter wird der Denk-Sport des Querdenkers. Im Grunde macht er weiter nichts, als die Deutungshoheit der Regierenden und ihrer hochbezahlten Psycho-Trickser aus den Beratungsagenturen zu unterlaufen. Er stellt die Hoheit über das eigene Gehirn wieder her. Setzt Selbstbewusstsein an die Stelle von kritiklosem Nach-Denken vorgegebener Dummheiten. Geht nicht geistig "auf Vordermann", sondern vertraut nur dem, was er selbst vorher genau untersucht hat. Jeder, liebe Frau D., der mich in diesem Sinne als Querdenker charakterisiert, hat meine volle Zustimmung.


Herr W. St. aus M.:
Ich bin entsetzt über die Folter-Enthüllungen im Irak. Sie haben mehrere Kriege erlebt - gab es da Ähnliches zu beobachten?

Harry Thürk:
Kriege, Herr St., sind immer voller Grausamkeiten. Das psychologische Gift von "Feindbildern" wird jungen Menschen eingetrichtert, bevor man sie aufeinander hetzt. Während die Ziele und die Hintermänner im Dunkel bleiben, gehen die Seelen der Kämpfenden vor die Hunde. -
Die fortschreitende Technisierung der Kriegshandlungen hat inzwischen die Sicherheit der nicht kämpfenden Zivilbevölkerung zur Farce gemacht. Und das Gefühl der Kämpfenden für das Unheil, das sie anrichten, geht ebenfalls verloren: der Pilot, der seine Bomben ausgeklinkt hat, denkt auf dem Heimflug nicht etwa an das Elend da unten, er ist mit seinen Gedanken längst beim Golfspiel, das auf ihn wartet, während auf dem Boden die Splitter seiner Bomben noch Kinder töten...
Eine ausgeklügelte Propaganda, von Reklameagenturen im Regierungsauftrag mit ebensolcher Routine aufbereitet, wie Werbung für Limonaden oder Waschmittel, drischt in die Hirne naiver, politisch unerfahrener Jugendlicher das "Wissen" um "Gute und Böse", das Alibi, man gehöre selbstverständlich zu den "Guten", und: zur Hölle mit den "Bösen"! So kommt es zu skrupellosem Töten. Schuldgefühl fehlt, im Gegenteil, man ist ja überzeugt, sich Verdienste zu erwerben für die Menschheit, weil man dieses minderwertige, verabscheuungswerte Gesocks der Gegenseite auslöscht...
Eine der widerwärtigsten Erscheinungen dieser Entwicklung, die wir alle beobachten können, wenn wir nur wollen, ist der Verlust des Gefühls für die Menschenwürde des jeweiligen Gegners. Er ist Dreck. Nicht einen Schluck Wasser wert. Meist lebt er einfach bis primitiv. Was ist das, verglichen mit uns, die wir den Mond anfliegen! Überheblichkeit, missionarischer Eifer, Verachtung, das sind Elemente dessen, was wir unter anderem heute im Irak mitansehen können, einem Gefühl der Überlegenheit, das letztlich zu jedem Mittel berechtigt, wenn es um die Bekämpfung von "Bösen" geht, die weniger wert sind als Tiere.
Die US-Soldaten von 1945, die mithalfen, Deutschland von den Nazis zu befreien, sind uns in guter Erinnerung. Ihre Art, auf legere Art demokratische Soldatendisziplin zu praktizieren, die Übergriffe, wie man sie von anderen Kriegsschauplätzen kannte, einfach ausschloss, war eine Offenbarung für uns, die wir Disziplin nur als preußischen Drill kannten. Seitdem ist viel Zeit vergangen. Die Vereinigten Staaten führten etwa fünf Dutzend kleinere Kriege, und es gab den Vietnam-Krieg, an Grausamkeiten reich wie kein anderer vorher, trotzdem aber blamabel verloren.
Als der Kalte Krieg mit dem Ausverkauf des sozialistischen Blocks durch Gorbatschow endete, ergriff das Management der USA die Chance, als einzige übriggebliebene Supermacht die Welt zu beherrschen. In dem Maße, in dem dieser imperiale Anspruch realisiert wurde, veränderte sich auch die Doktrin der Streitkräfte. Sie wurden von der Verteidigungsaufgabe, die ohnehin schon ziemlich verkümmert war, endgültig zur reinen Interventionsmacht.
Ihr Bewusstsein wurde aufgeladen mit dem Gift der Überheblichkeit, der Überlegenheit über alle anderen Völker, was Waffen und Kriegskunst betrifft, sowie der Missachtung "unterentwickelter Völker" und deren kultureller oder religiöser Traditionen. Völkerrechtliche Abmachungen werden abgelehnt, alles was den USA nutzt, ist erlaubt. Die jungen Leute, die heute als GI's in die Welt geschickt werden, sind daran gewöhnt worden, auf Stichworte zu reagieren, deren Bedeutung sie meist nicht kennen. Sie reagieren, ähnlich wie Pawlowsche Hunde, auf Reize. Es genügt, laut genug "Terrorist" zu brüllen, oder "Menschenrechte", und schon toben sie los, um unter Anwendung der barbarischsten technischen Mittel angebliche oder tatsächliche Gegner zu vernichten. Fragt man solche Helden etwa nach der Menschenrechtskonvention oder deren Entstehungsgeschichte, werden sie leicht zornig. Sie fühlen sich provoziert, denn sie haben natürlich keine Ahnung.
Aber sie verrichten ihren "Job" mit einer kaum zu überbietenden Skrupellosigkeit. Wir erleben heute, dass sie nicht nur verbrecherische Befehle, wie solche zur Erpressung von Informationen mit Gewalt, widerspruchslos ausführen, sie demonstrieren uns auch, dass es ihnen Spaß macht, ihre wehrlosen Gegner zu demütigen, ihre Menschenwürde zu zerstören, sie psychisch wie körperlich zu quälen, ihnen lustvoll auf jede erdenkliche Art zu zeigen, dass sie wertloser als Dreck sind.
Das ist es, was mich an diesen Quälereien, die aus dem Irak berichtet werden, am meisten bewegt: An der Jugend der USA, die dort agiert, ist von ihrem Staat ein Verbrechen verübt worden, über das heute noch kaum einer spricht - man hat ihre Seele zerstört. Was sie im Irak, in Guantanamo, in Afghanistan und anderswo tun, auf Befehl oder zum eigenen sadistischen Amüsement, beides ist der Beweis dafür.
Zwei wohlfeile Entschuldigungen werden gezielt verbreitet, um die weltweite Empörung wenigstens um eine Kleinigkeit zu dämpfen. Terror, so heißt es, ist so furchtbar, so feige, so schrecklich ungerecht und unmenschlich, dass man bei den Bekämpfern Verständnis für gewisse Überspitzungen, für Überreaktionen haben muss. Und außerdem ist ja nur ein kleiner Teil der Armee an den Verfehlungen beteiligt. Ich finde beides nicht gerade überzeugend. Und mir fiel spontan die Bemerkung ein, die Mahatma Ghandi über Vorgänge im Jahr 1945 gemacht hat: "In Hiroshima und in Dresden haben die Alliierten Hitler mit Hitler bekämpft." -
Was im Irak geschah, ist Ausdruck des Höhepunktes, den die Verirrung junger Amerikaner unter dem Einfluss einer raffinierten Hetzpropaganda erreicht hat. Gerade meine Generation hat aus der deutschen Geschichte einschlägige Erfahrungen. Deshalb hoffe ich persönlich, dass sich in den USA Kräfte finden, die diese Entwicklung beenden, die mit dem Mittel des Krieges verantwortungsvoller umgehen, sich an das Völkerrecht halten, und die geistige Deformierung der jungen Menschen radikal einstellen.


Herr W. Ch. in Greiz:
Heute, am Tag des Buches, nehme ich mir die Freiheit, Sie zu fragen, wie Sie es sich erklären, dass in den Buchhandlungen immer mehr Schund verkauft wird, während talentierte junge Autoren ihre Bücher auf eigene Kosten drucken lassen müssen, weil der Markt sie gar nicht übernimmt...

Harry Thürk:
Es gibt auf Ihre Frage mehrere Teilantworten. Ob sie alle Ihre Zustimmung finden, weiß ich nicht. Auch ich stimme nicht allen Antworten zu, die ich auf die gleiche Frage höre, wie sie von Ihnen kommt. Patentrezepte manchmal. So hörte ich beispielsweise gerade im Radio, wie die Gattin eines Politikers empfahl, um Kinder an regelmäßiges Lesen von Büchern zu gewöhnen, ihnen schon sehr früh, gewissermaßen als Einschlaflektüre, auf dem Bettrand Geschichten vorzulesen.
Ich halte das - was die Gewöhnung an späteres Lesen betrifft - für wenig aussichtsreich. Wobei die Art des abendlich Vorgelesenen keine Rolle spielt - in meiner persönlichen Erfahrung schlafen Kinder ein, egal was man ihnen rezitiert, Max und Moritz, Goethe oder eine Predigt des Bundespräsidenten.
So einfach ist das mit dem Lesenlernen nicht, denn Lesen will ja eben zuallererst "gelernt" sein. Die Buchstaben des ABC, Rechtschreibung, Grammatik, Worte und ihre Bedeutung, Synonyme, Wendungen, und ... und ... und. "Eine Lese ist keine Höre", statuierte einmal ein Praktiker. Also heißt es, vor dem Lesen erst einmal zu lernen. Womit wir plötzlich bei dem großen Haken der Sache sind: Zum Lernen gehört ein Ziel. Lesen zu können erleichtert das Erreichen dieses Ziels. Aber wo ist es? Welcher Schüler im besten Lesealter kann heute ein Ziel für das vor ihm liegende Leben haben? Womit er rechnet: keine Lehre, keine Arbeitsstelle, wenig Hilfe von der Gesellschaft, lebenslange Probleme - wofür soll er Lesen lernen? Um sich die Zeit zu vertreiben? Da wählt er Dinge, die ihn nicht anstrengen. Meine Generation raffte das Wissen förmlich aus Büchern zusammen, weil es half, im Leben vorwärts zu kommen. Diese Gewissheit hat die gegenwärtig im besten Lesealter befindliche Generation nicht mehr. Ein gravierender Unterschied. Und der ist von der Bettkante her eben nicht zu beseitigen!
Zu dem Begriff "Schund", den Sie in Ihrer Frage verwenden, ist zu sagen, dass es Produzenten wie Konsumenten von Schund bei uns immer schon gab. Nicht nur, wie häufig behauptet, kommen die Schundproduzenten aus den unterprivilegierten Schichten, nein, die Betuchten zeichneten sich stets in großer Zahl als Liebhaber von Schund und Kitsch aus, obwohl sie es nie versäumten, sich als Symphoniekonzertbesucher oder beim Opernball fotografieren zu lassen, oder in ihren Wohnungen wohlgefüllte Bücherwände vorzuweisen. Klassik, selbstverständlich!
Und da möchte ich auf Literatur kommen, Sie auf eine Entwicklung aufmerksam machen, die sich da in der letzten Zeit vollzogen hat: Alles, was sich zwischen zwei Buchdeckeln befindet, ist plötzlich "Literatur"! Man wischt sich verblüfft die Augen - ob die zu Papier gebrachte Misere eines Hallodris, der beim Geschlechtsverkehr sein Glied versehentlich mit einem Knick versah, ob die Leiden des jungen Werther oder der Kampf ums Überleben, den eine von den Nazis verfolgte Jüdin in Theresienstadt führte - unversehens ist das alles in dem großen Topf gelandet, den die deutsche Unterhaltungsindustrie stolz als "Literatur" bezeichnet. Dazu kommen dann noch allerlei Produkte von Spinnern, die Naive neugierig machen können. Oder die Ungereimtheiten von ungefährlichen "Dichtern". Selbstverständlich die Äußerungen von staatsnahen "Prominenten", die genug Feingefühl haben, sich nur dann zu Wort zu melden, wenn sie etwas Lobendes zu sagen haben. Oder akademisch Geadelte, die man stets dann zum repräsentativen Vorzeigen braucht, nachdem man willige Rezensenten zum 14. Mal hat versichern lassen: "Er (Sie) gehört zu jenen Dichtern, die man nicht begreifen muss, um sie zu verstehen. Das macht ihn (sie) zu einem von den ganz Großen." Was immer das heißen soll.
Oder man lässt sie mit schwerer philosophischer Zunge in die Kamera heisern: "Ich schreibe, um herauszufinden, warum ich schreibe." Suchen Sie mal einen unserer Landsleute, der den Mut hat, öffentlich zu erklären, dass er diese Ikonen für Scharlatane hält!
Autoren mit einem Anliegen, das nicht in die Quotenpolitik der Unterhaltungsindustrie passt hingegen, haben keine Chance, zu Wort zu kommen. Niemand preist sie in dieser reklameorientierten Marktwelt an, sie existieren einfach nicht, selbst wenn sie es vermittels finanzieller Selbstbeteiligung schaffen sollten, gedruckt zu werden.
Oder investigative Autoren, von denen es bei uns ja ohnehin nur wenige gibt. Da ist Schockbehandlung wieder zum Gegenmittel geworden. Fragen Sie Udo Ulfkotte, einen der letzten seiner Gattung: Haussuchung wegen Verrats von Polizeigeheimnissen. (Ganz nebenbei: in wievielen pressefreiheitlichen Organen konnte man darüber auch nur eine Dreizeilenmeldung finden?)
Also - so ist das mit "Literatur" geworden: vermittels regelmäßiger Präsentation im Fernsehen und in anderen Medien, wobei die betreffende Person dann jeweils ein paar Banalitäten oder auch Peinlichkeiten abspult, wird selbst der zurückgebliebenste Dummkopf, der stinkendste Zuhälter oder die an lächerlichem Exhibitionismus leidende Hure zur "prominenten Person" gemacht, auf deren zwischen Buchdeckel geklatschtes Gelaber genügend Leute neugierig sind, um Kaufquote zu garantieren. So funktioniert Markt. Wem das nicht passt, der scheint lieber in Unfreiheit leben zu wollen...
Noch eine kleine Teilantwort auf das Stichwort "... talentierte junge Autoren ...". Sie sind der goldene Fundus einer Literatur, die diese Bezeichnung verdient. Erfreulich ist ihre Zahl, nachdem manche Leute schon das Aussterben dieser Spezies beschworen hatten.
Wenn die Gesellschaft klug ist, wird sie diesen talentierten jungen Schreibern den Weg erleichtern, so gut das möglich ist. Am wichtigsten wird sein, dass sie sich unabhängig von Markt, Quote und Moden entwickeln können, dass sie "eigenes Gesicht" bekommen, systematisch an Leser herangeführt werden und gewissenhafte Verleger sich ihrer so früh wie möglich annehmen. Es wird derzeit schon eine Menge in diesem Sinne getan, aber das reicht noch nicht aus. Es braucht fraglos auch Geld: ein Stipendium kann einen jungen Autor durchaus entscheidend bei der Fertigstellung einer Arbeit unterstützen, die den Durchbruch für ihn bringt. Ich bin da nicht hoffnungslos, weil ich sehe, dass vieles schon getan wird, aber zur Zufriedenheit ist das alles noch nicht gelöst. Trotzdem glaube ich, dass Zuversicht hier angebracht ist, obwohl - von staatlicher Seite sind die Bemühungen noch absolut unzureichend. Wenn sie nicht entscheidend gesteigert werden, besteht durchaus die Gefahr, dass hoffnungsvoller literarischer Nachwuchs nach und nach buchstäblich "verdorrt".