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Das Harry Thürk - Fortsetzungsinterview

Da bis zum Tode Harry Thürks regelmäßig Leseranfragen im HTF eintrafen, war im Juli 2003 (v2.1) dieses Fortsetzungsinterview ins Leben gerufen worden. Hier finden Sie eine Auswahl der interessantesten Leserfragen an Harry Thürk. Im Mai 2006 (v5.4) wurden die letzten Fragen, die Thürk noch zu Lebzeiten schriftlich beantwortet hatte, veröffentlicht und das Interview endgültig eingestellt.
Übrigens: Eine Auswahl der Interviewfragen, sowie einige hier nicht veröffentlichte Texte, wurden Ende 2004 im Spotless-Verlag Berlin unter dem Titel "Treffpunkt Wahrheit" herausgegeben. Preis: €5,10.



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Herr J. in N./S.:
Die notwendigen Reformen in Deutschland kommen langsam in Schwung. Sind Sie mit Umfang und Tempo zufrieden? Oder hätten Sie Zusatzvorschläge?

Harry Thürk:
Ich bin sicher, man wird auch ohne Vorschläge von mir auskommen, in dieser Inflation von halben und Dreiviertel-Gedanken, die mit ihrem gezielten Verwirrungseffekt trefflich geeignet sind, historische Fakten zu vernebeln, die zu den Rückschritten in der Wirtschafts- und Soziallage Deutschlands führten. Was unsere "Reformer" da aufführen, kommt mir hysterisch vor. Und verlogen. Warum hat man nicht den Mut, den Leuten die Wahrheit zu sagen? Trotz Pisa. Oder möchte man uns auch noch weismachen, unsere Polit-Darsteller hätten von der Geschichte zwischen 1945 und 1990 nie etwas gehört?
Die Anti-Hitler-Koalition der Westalliierten mit Stalin, die ihnen erhebliche Menschenverluste beim Endkampf in Deutschland und vor allem in Fernost erspart hatte, endete mit der Verfestigung zweier weltanschaulicher Blöcke. Die Grenze verlief mitten durch Deutschland. Der Kalte Krieg begann. Jede der beiden Mächte führte ihn nicht nur für eigene Ziele, sondern auch mit eigenen Mitteln und Methoden.
Unter amerikanischen Historikern ist die Ansicht verbreitet, man habe die Sowjetunion "totgerüstet". Sehr wahr, finde ich. Allerdings würde ich anfügen, die Sowjetunion wurde auch "totgesozialt", wenn man mir dieses skurrile Wortgebilde einmal der Verständigung halber abnehmen will: damit, lieber Herr J., kommen wir nämlich zu den sozialen Unterschieden in den jeweiligen "Frontländern" an der Grenze des Kalten Krieges, und das führt von den Beweggründen für deren Wiedervereinigung geradewegs zum Ende der Großmächte-Konfrontation, danach über den Zerfall des Sowjetreiches, den Zusammenschluss der beiden deutschen "Frontländer" ins Zentrum der heutigen Reform-Revue mit den kaum noch überschaubaren Nummern. -
Als ich in den 60er Jahren zum ersten Mal zu einem Buchbasar in Westdeutschland eingeladen war und dort mit einem Leser ins Gespräch kam, der mir plausibel vorrechnete, dass er als Arbeitsloser mit dem, was er an sozialen Leistungen genoss, besser leben konnte als ein Aktivist in der DDR, wurde ich aufmerksam auf die höchst wirkungsvolle Art, in der sich das westliche Bündnis dagegen schützte, dass Leute am "Kommunismus in der Zone" auch nur den Schimmer von Interesse entwickelten. Das westliche Bündnis schätzte seine deutschen Pappenheimer absolut nüchtern (und richtig) ein. Und so floss, angefangen mit dem Kaffee, der Schokolade, den Bananen und anderen Köstlichkeiten des Marschallplanes, vieles in das "Frontland", was dessen Lebensstandard auf spektakuläre Weise hob, sein Sozialwesen einmalig in Europa machte und so nicht nur für die Brüder und Schwestern im Osten den Charakter eines irdischen Paradieses mit dem Namen BRD verband.
Währenddessen vollzog sich in der DDR, wie in den übrigen Ländern des von der UdSSR gesteuerten Blocks, ein völlig anderer Prozess. Er hatte mit dem Abtransport des persönlichen Eigentums aus den von den Vertriebenen verlassenen Wohnungen begonnen, sich über die "Verlagerung" von Kunstsammlungen, Bibliotheken und ähnlichen Einrichtungen fortgesetzt, bis ganze Fabriken abtransportiert wurden, Eisenbahngleise - alles als Reparationsleistungen deklariert.
Schließlich wurden sogenannte "SAG" (Sowjetische Aktien-Gesellschaften) gegründet, im Erzgebirge wurden die Uranvorkommen abgebaut, es wurden "Vorkaufsrechte" zementiert, "Entnahmen aus laufender Produktion", und was den Spezialisten sonst noch so einfiel. Alles "für die Stärkung des Weltfriedens", wie es hieß. Bis zur Gründung der RGW-Bank, die dann auch noch das Inkasso selbst erwirtschafteter Devisen übernahm. Das ging solange gut, bis selbst die geduldige Bevölkerung der DDR sich auf das Paradies im Westteil des alten Deutschlands besann und laut wurde: "Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, gehen wir hin!"
Der Insolvenz-Abwickler des Kreml gab sich geschlagen und ließ sich mit einer mehrstelligen Milliardensumme von den Siegern des Westens, deren Rechnung aufgegangen war, auf Zustimmung programmieren. Das schenkte uns letztlich die Wiedervereinigung.
Allerdings war von da an der enorme Aufwand an regimevergoldenden Vergünstigungen für die BRD-Bürger überflüssig geworden. Der Abbau setzte ein. Und den hatten nun, nach kurzer Jubelzeit, die neuen Paradiesbewohner aus der DDR mitzutragen. Womit sie nicht gerechnet hatten. Und worüber sie bis heute nicht glücklich sein wollen.
Dass ausgerechnet eine "linke" Regierung im neuen Gesamtdeutschland die Verantwortung für den Sozialabbau tragen muss, ist deren Pech. Das Durcheinander ihrer Maßnahmen, die sie "Reformen" nennt, um den Schock abzuschwächen, und das Sammelsurium ihrer Pseudo-Argumente (von Generationengerechtigkeit über Kindermangel, zu viele Rentner, zu kurze Lebensarbeitszeit bei zu wenigen Arbeitsplätzen, Sorge um das Einkommen der heute noch gar nicht geborenen Generation, etc. etc.) zeugt von hilfloser Eierei, kann die Verantwortlichen aber offenbar nicht dazu bewegen, dem Volk die eigentliche Wahrheit zu sagen. Schade. -
Also wird es mit den "Reformen" weitergehen. Die Masse der Kleinverdiener und Rentner wird für die Staatsausgaben blechen, während die Großverdiener sich (ganz legal!) in steuergünstigere Länder zurückziehen. Wer dagegen protestieren will, kann das tun. Helfen wird es nicht. Ebenso wie "Reformen" nicht helfen. Deshalb, lieber Herr J., habe ich keine zusätzlichen anzubieten.


Herr L. aus P.:
Seit mehreren Jahren bin ich im Besitz Ihres Buches "Die Stunde der toten Augen". Ich lese es immer und immer wieder. Die Ereignisse, welche Sie dort schildern, haben mich stark beschäftigt. Haben Sie damals diese Geschehnisse in der Gegend um Gumbinnen/Goldap selbst so erlebt? Ich meine, dieses Buch ist so intensiv geschrieben, dass es auf mich diesen Eindruck hinterlässt. Zwar steht im Nachwort, dass die genannten Orte erfunden sind, aber mich würde interessieren, ob es dieses Dorf "Haselgarten" wirklich gab und wie es richtig hieß.

Harry Thürk:
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse an meiner Arbeit. Ja, ich war im Herbst 1944 als Soldat in der Nähe von Gumbinnen eingesetzt und kenne das was sich da abspielte aus eigener Erfahrung. Der Name "Haselgarten" ist fiktiv. Das was ich im Zusammenhang mit diesem Ort erzählte, geht auf eine Begebenheit in der Gegend von Nemmersdorf zurück, an die ich mich heute noch erinnere. Ich habe sie später in meinem Roman etwas verändert verwendet, wie andere auch.
Übrigens: wie der Ort hieß, in dem ich diese Begebenheit erlebte, weiß ich nicht. Es ist wohl so, dass Soldaten, die mit einem SPW in eine Gefechtszone gekarrt werden, in den seltensten Fällen den Namen des Ortes kennen, in dem sie sich mit dem Gegner herumschießen. Sie haben andere Sorgen. Jedenfalls ging mir das meist so. Man sucht da nicht das Ortsschild. Und die Karte mit dem Ortsnamen darauf hat der Kompaniechef. -
Ein Wort noch zu der von mir vermuteten Substanz Ihrer Frage. Sie suchen in meinem Roman nach tatsächlichen Fakten. Ich kenne das aus Zuschriften von anderen Lesern auch. Deshalb dieser Hinweis von mir: ein Roman ist immer eine Komposition von fiktiven, erzählerischen Elementen mit tatsächlichen Begebenheiten, die der Autor sozusagen in seinem Kopf gespeichert hat und die er in seine Erzählung hineinkomponiert, wodurch ein erzählerisches Ganzes entsteht. Dieser Vorgang ist ein künstlerischer Prozess, dessen Ergebnis (der Roman) sich später nicht mehr so einfach in "fiktive" und "tatsächlich erlebte" Begebenheiten zerlegen lässt, weil beides längst verschmolzen und zu einer künstlerischen Einheit geworden ist.
Wer also allein an harten Fakten interessiert ist, sollte Dokumentationen bevorzugen. Wer hingegen den künstlerischen Reiz eines mitreißend erzählten und gekonnt komponierten Werkes schätzt, das durchaus zeitgeschichtliche Aussagekraft haben kann, der muss Romanen dieser Gattung seine Aufmerksamkeit schenken.


Herr H. in L.:
Sie haben sicher den Ablauf der Feierlichkeiten zum Jahrestag der Wiedervereinigung in Magdeburg verfolgt. Wie fanden Sie die?

Harry Thürk:
Zum Schreien komisch. Weil sie ungewollt offenbarten, mit welchem Schwachsinn Klugschwätzer das Zusammenwachsen der beiden konträren Entwicklungswege in den Teilen Deutschlands zu befördern versuchen. Schon der Teil mit den ernsthaft sein sollenden Reden der zwei höchsten Bundestagsdarsteller war ja von gottvoller Intelligenz geprägt. Der Bärtige der beiden Sprecher eröffnete den Leuten, dass der weitere Weg zur Einheit nun immer noch weit wäre, aber nicht mehr so steil. Er vermied es, zu sagen ob steil aufwärts oder steil abwärts.
Der Glattrasierte griff voll in die Kiste. Hatte er doch herausgefunden, dass es in den neuen Ländern eine bedrückende Arbeitslosenquote gibt. Wer nicht absolut plemplem ist, weiß das schon lange. Aber die Politik hierzulande lebt eben von Wiederholungen. Deshalb holte der Herr auch gleich noch eine echte Überraschung zusätzlich aus der Ablage: die Rentner können stolz darauf sein, die Finanzmisere der Regierung endlich zu beenden, denn sie gehen nächstes Jahr bei der Inflations- und Teuerungsanpassung leer aus. Na, wenn das nicht stehende Ovationen wert ist!
Als Bürger Weimars hatte ich damit gerechnet, ein Lob dafür zu hören, dass man in der Weltkulturhauptstadt, in der die erste deutsche Republik gegründet wurde, und in der es überdies die Schande von Buchenwald zu erinnern gibt, jetzt endlich das völlig überflüssige Stadtmuseum geschlossen hat. Wegen Geldmangel. Die hier eingesparten Mittel können doch viel besser für Deutschlands Sicherheit am Hindukusch verwendet werden. Aber das hat der Redenschreiber wohl vergessen...
Nun ja, wen die offizielle Seite der Sache nicht so ganz beglückte, der kam dafür dann aber im Showteil voll auf seine Kosten. Da wurde mit traumtänzerischer Sicherheit der Geschmack der so lange kulturell unterversorgten Ossis mit sehr gut abgelagerten Spitzenleistungen seelenbewegender Kunst bedient. Schon die niedliche Kindergarten-Inszenierung mit dem "Zug durch Mauer" übertraf alle Erwartungen. Und ob nuschelnder Hutständer oder die durchfallgeplagte Dame, an deren schmerzverzerrtem Gesicht man ablesen kann, wie weit sie es bis zum nächsten Klosett hat - unanfechtbare Sonderklasse! Nachfolgende Nummern reihten sich da nahtlos ein. Noch nie haben Brüder und Schwestern von irgendjemandem so etwas geboten bekommen.
Daran änderten auch ein paar Pannen nichts. So entfiel die sehnsüchtig erwartete Darbietung, in der eine Ost-Schwangere modisch ihren nackten Bauch zeigen sollte, um publikumswirksam die Bestrebungen zur Geburtensteigerung zu unterstützen. In letzter Minute hatte es ernstzunehmende Hinweise darauf gegeben, dass der Kindesvater schon kurz nach der Schulentlassung an drei verschiedenen Tagen mehrmals auffällig langsam an der damaligen Stasi-Dienststelle seines Wohnortes vorbeiging. Der Verdacht, dass er sich anbot, konnte nicht ausgeräumt werden. Da war Verzicht schon angezeigt.
Einem technischen Problem fiel eine weitere Darbietung zum Opfer, in der ein Spezialist im Zusammenkleben von Papierfetzchen auf einer Super-Breitwand vorführen sollte, wie man herausgefunden hatte, wer es gewesen war, der an die Stasi verriet, dass Didi Hallervorden in Wandlitz die goldenen Wasserhähne entdeckt und das an Heinrich Lübke verraten hatte.
Ärgerlich auch, dass die weltberühmte Integrationsfigur / Ost absagen musste. Sie wollte zur Förderung des weiteren Ankommens der zögerlichen Leute aus den Neuländern in der zeitgemäßen Wirklichkeit die Stationen ihres Lebens offenlegen, unter dem Titel: "Mein erfolgreicher Weg von Hitlers Jugend über FDJ, ZK der SED und (unbedeutende) Stasi-Informantentätigkeit in die Armee derer, die Deutschland endlich von seinen überflüssigen Soziallasten befreien". Die Handzettel waren schon zur Verteilung bereitgelegt.
Aber da entdeckte man zum Glück noch, dass ein Saboteur darin einen gemeinen Fehler verursacht hatte: statt "erfolgreicher" hatte er "erbärmlicher" gedruckt. Der ohnehin durch Abmagerung geschwächte Körper der Integrationsfigur reagierte darauf sofort mit enormen Schlafstörungen, die den Vortrag unmöglich machten. -
Nun ja, Herr H., es gibt eben nicht immer nur Erfolge. Trotzdem war das Jubiläum ein bewegendes Erlebnis, wie ich Ihnen gern bestätige. Ich hoffe, Sie freuen sich mit mir auf nächstes Jahr. Da soll es in Mühlhausen gefeiert werden. Wie aus eingeweihten Kreisen verlautet, soll Karl Dall gewonnen werden, zum Absingen des Volksliedes vom doofen Ossi: Otto Waalkes soll auf Hochdeutsch die Festrede halten. Allein deswegen schon werden sicher ein paar Politiker aus Nachbarländern anreisen. Lassen wir uns überraschen, Herr H.!
Und, bitte, nehmen Sie meinen Spott über das Ereignis nicht etwa ernst!


Herr Br. in K.:
Ich habe mit großer Genugtuung verfolgt, wie der aggressiven Politik der USA in Sachen Irak endlich einmal ein Stop entgegengesetzt wurde, als es im Sicherheitsrat der Uno um Soldaten ging. Wie beurteilen Sie dieses Signal?

Harry Thürk:
Weniger enthusiastisch, Herr Br. Aus verschiedenen Gründen. Zunächst glaube ich, die USA haben nicht nur dieses eine Gesicht, das die gegenwärtige Regierung prägt, die ja, wie Sie sicher wissen, nicht durch eine eindeutige Wahl bestimmt wurde, sondern durch einen Gerichtsbeschluss. Das lässt Fragen im Hinblick auf die Akzeptanz zu, und damit auf die Möglichkeit, dass "andere Gesichter Amerikas" eines Tages wieder verantwortungsvoller im Namen dieses Riesenlandes handeln. Über die Akzeptanz der gegenwärtigen deutschen Regierung muss ich Ihnen ja keine Statistiken anbieten, die können Sie den etwas unabhängigeren Medien entnehmen. Ob es angesichts dieser Sachlage politisch besonders klug ist, sich mit Frankreich und (ausgerechnet!) mit Russland zu einer "extraeuropäischen Allianz" gegen die USA zusammenzuschließen, das würde ich mit großen Fragezeichen versehen. Unter anderem auch weil mir deutsche Repräsentanten zu viel und zu laut von der "deutschen Führungsrolle" bei europäischen Entscheidungen schwätzen.
Meine Phantasie reicht auch aus, um zu ermessen, was "Europa-Anwärterstaaten" davon halten, zumal ja das verfassungsmäßige Problem der Gleichberechtigung in Sachen europäischer Entscheidungsfindung noch keineswegs gelöst ist und nicht wenige der Anwärter heikle Erfahrungen mit der "Führungsrolle" von Groß- und Mittelstaaten aus der Vergangenheit haben.
So ist mir beispielsweise nicht entgangen, dass in England (auch in den USA) das was Paris, Berlin und Moskau da zelebrieren mit süffigem Spott als "Achse" bezeichnet wird. Keinem Engländer oder politisch interessierten Amerikaner braucht man diesen Begriff zu erläutern. Er würde auch nur lächeln, wenn man ihn auf eine Unzulässigkeit im Vergleich aufmerksam macht: für ihn waren die "Axis-Powers" in Europa und Asien jene, gegen die er im 2. Weltkrieg antrat. Dieser Stempel ist so leicht nicht zu löschen. Die "Achse Berlin-Rom-Tokio" ist gelebte und erlittene Geschichte und deshalb zäher als taktische Spielchen der politischen Gegenwart.
Diese "Achse" nämlich war es, die letztlich den Völkerbund zerstörte, eine Einrichtung der internationalen Vernunft nach den bitteren Erfahrungen des 1. Weltkrieges, die durchaus als Vorgängerin der UNO betrachtet werden kann. "Achsenmächte" wie Japan (1931, mit seinem Eroberungsfeldzug gegen China und der Annektion der Mandschurei), Italien (1935 mit seinem Krieg gegen Abessinien) und Deutschland (mit der Besetzung der Tschechei 1938) waren die Totengräber des Völkerbundes. Ihnen schloss sich dann die Sowjetunion 1939 schnell an, um nicht die Chance zu verpassen, sich einen Teil Finnlands zu sichern.
Wer heute - zu recht oder nicht - mit dieser "Achse" verglichen wird, ist daran selbst schuld, weil er das Gedächtnis der Völker unterschätzt hat. Peinlich. Aber unvermeidlich.
Den Weg ins Kabarett hat die "neue Achse" bereits gefunden. Als leidenschaftlicher Kurzwellen-Surfer erwischte ich neulich einen englischen Spaßmacher, der sie ins Verhältnis zu der historischen Achse von damals setzte: bei der historischen habe der östliche Endpunkt weitab in Asien gelegen, in Tokio, während sich die Stelle, an der Deutschlands Sicherheit verteidigt wurde, an der Wolga befand, also gerade noch in Europa. Das sei nun bei der neuen Achse geradezu umgekehrt: Endpol der Achse, Moskau, liege zwar nicht in der EU, aber in Europa. Während Deutschlands Sicherheit sehr viel weiter östlich verteidigt werde, in Afghanistan.
Er habe, so ulkte er weiter, weil er den Verdacht habe, Zeuge welthistorischer Entwicklungen zu sein, eine deutsche Parlamentsabgeordnete, die sich mit Militärfragen befasse, danach befragt, wie es denn die deutschen Soldaten am Hindukusch mit der Haager Landkriegsordnung hielten.
Sie habe ihm daraufhin glaubwürdig versichert, im Gegensatz zu den USA würde Deutschland den Haager Internationalen Gerichtshof voll akzeptieren. Daher werde die von dort ergangene Bekleidungsordnung für Nato-Soldaten im Felddienst von den deutschen Streitkräften auch "eins zu eins" befolgt. (Letzteres wiederholte er auf Deutsch.)
So, lieber Herr Br., fordert politische Instinktlosigkeit unweigerlich Spott heraus. Und wohl auch Schaden.
Ich kann die Weltbevormundung der gegenwärtigen US-Regierung nicht akzeptabel finden. Aber die "neue Achse" dagegen findet auch nicht meinen Beifall. Wenn Sie das für ein persönliches Dilemma meinerseits halten, stimme ich Ihnen unumwunden zu.


S. Za. aus F./M.:
Sie verfolgen sicher die Veröffentlichungen um Günter Wallraff über seine angeblichen Stasi-Kontakte. Wer sagt Ihrer Meinung nach die Wahrheit?

Harry Thürk:
Wer tatsächlich glaubt, in irgendeinem Fetzen der Hinterlassenschaft eines Geheimdienstes so etwas wie Wahrheit zu finden, ist ein Naivling. (Wer nur vorgibt, das zu glauben, um sein Süppchen zu kochen, ist ein Betrüger.) Ein Geheimdienst produziert grundsätzlich irreführende Zwecklügen. Deshalb glaube ich Geheimdiensten nicht ein Wort. Zumal diese "Aufzeichnungen" anonym sind. Daher sind sie ja z.B. vor Gericht unbrauchbar. Es sind Behauptungen, keine Beweise. Der Tatbestand des Rufmordes liegt nahe. Und ganz bestimmt der der üblen Nachrede oder Verleumdung, für die es Strafrechtsparagraphen gibt. Es sei denn, der Verfasser (Schreiber) träte den Beweis der Wahrheit an, persönlich.
Insofern habe ich Anlass, zu glauben, dass Wallraff die Wahrheit sagt und nicht jene, die aus "Papieren ohne verantwortlichen Autor" gern Beweise machen möchten.
Warum? Man muss schon sehr naiv sein, um das der Machart des Medien-Schaums nicht anzumerken. Ich las gerade in einer deutschen Zeitschrift zwei Beiträge über Leute mit solchen Kontakten. Eine der Personen sagt aus, sie habe nie wissentlich (mit Unterschrift) Informationen geliefert (2 Halbseiten, Westdeutsch), was man ihr nicht glaubt. Die andere Person, eine sogenannte Integrationsfigur, gibt Kontakte und Berichte zu, ziemlich am Rande eines betont sensiblen 3 1/2 Seiten - Personalinterviews mit 9 Fotos, die Stasi-Bemerkung macht nur einige Zeilen aus (Ostdeutsch). Ob das ein Versehen war, die beiden in demselben Heft so unterschiedlich zu präsentieren oder nicht - jedenfalls unterstreicht es die gezielte Botschaft, die sich hinter dem Medien-Schaum um Wallraff versteckt: "Na also, nur linke Querköpfe und Vaterlandsverräter waren es, die in der Alt-BRD für diesen Ost-Geheimdienst 'politische und militärische Geheimnisse' ausspionierten!" (Wallraff und "militärische Geheimnisse" - haha! Woher hatte er die denn? Sebnitz lässt grüßen!) So lenkt man von West-Deutschen ab, die das nun wirklich machten. Für Geld. -
Dieses ganze Stasi-Geschäft fängt an, zu stinken. Und unsere Regierung, die trotz knapper Kassen dieses "Amt" finanziert, muss aufpassen, dass der Gestank nicht nach und nach ihre Arbeit aromatisiert. -
Übrigens: Geheimdienst-Aufarbeitung gab es ja schon mal, anlässlich der Gestapo der Nazis. In der Alt-BRD wurde damals ganz vorsichtig damit verfahren, um niemandes Ruf zu schädigen. Beispiel, aktenkundig, heute: Der Denunziant, der Sophie und Hans Scholl, die Münchener antifaschistischen Studenten, bei seinen Gestapo-Auftraggebern anzeigte, worauf sie (und ihre Freunde) bekanntlich enthauptet wurden, arbeitete im "neuen deutschen Rechtsstaat" nach 1945 als Angestellter des Verfassungsschutzes. Später wurde er Sicherheitschef bei der Autofirma Daimler-Benz, und 1984 erhielt er das Bundesverdienstkreuz erster Klasse. -
Soll man im Lichte solcher historischen Verfahrensweisen ausgerechnet die "ernstzunehmenden Hinweise" glauben, die von den heutigen "Aufarbeitern" kommen, in unserer Papierschnitzel-Sammelbehörde, die nach ihren "Funden" im Geheimdienst-Abraum über Moral (!) oder Unmoral richten möchte?
Ich kann nur mit der inzwischen klassisch gewordenen Antwort unseres Außenministers Fischer auf seinen US-Kollegen Rumsfeld dienen, der ihm die CIA-"Erkenntnisse" über Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen vorhielt: "Ich bin nicht überzeugt!"

[Anm. d. Red. d. HTF: Der Klarname des Scholl-Denunzianten A.R. ist der Redaktion bekannt, wird aber anstandshalber hier unerwähnt gelassen. Interessierte werden gebeten, sich bei der bayrischen VdN nach dem Mann zu erkundigen.]


Herr D. aus H.:
Wie beurteilen Sie die Bereitschaft des EU-Kandidaten Polen, Soldaten für die US-Kriegsaktion im Irak bereitzustellen, im Gegensatz zu der Ablehnung der meisten anderen EU-Länder, sich da zu beteiligen? Und was glauben Sie, wie wird die polnische Regierung die Teilnahme polnischer Soldaten ihrer Bevölkerung erklären?

Harry Thürk:
Seit einiger Zeit fürchte ich, dass einer der besserwissenden Gutmenschen aus unserer politischen Darstellerszene über die Entscheidung, die Polen da getroffen hat, eine öffentliche Kampagne lostritt, um dem EU-Kandidaten im Osten klarzumachen, wo es gefälligst langgeht. Um ihn, wie es selbst Regierende bei uns heute auszudrücken pflegen, "auf Vordermann zu bringen". (Das ist die stumpfsinnige, zuletzt von den Nazis benutzte Militärsprache, die nach dem Fußschweiß friderizianischer Grenadiere stinkt. Sie ist allein deshalb schon zum Speien: Gleicher Schritt, gleiches Denken, keiner schert aus. Wir glaubten, das hinter uns zu haben...)
Was die Haltung Polens in der Sache angeht, so bin ich persönlich der Meinung, dass sie keinesfalls etwa volles Einverständnis Polens mit den Präventivkriegstheorien von Präsident Bush bedeutet. Dafür sind denn doch die Ansichten vieler polnischer Bürger zu unterschiedlich. Und der Krieg zu offenkundig herbeigelogen. Sichtbar wird, dass Polen auch als EU-Mitglied nicht die Absicht haben wird, bestimmte Entscheidungen, die nationale Interessen beinhalten, von anderen treffen zu lassen. Brüssel wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Geschichte europäischer Nationen sehr unterschiedlich war, und dass nationale Selbstachtung gar nicht so einfach von einer Vielvölkerversammlung per Abstimmung im Handumdrehen beseitigt werden kann.
Meiner Ansicht nach liegen die Gründe für Polens Haltung zu einem entscheidenden Teil in seiner Geschichte. Besonders der letzten Phase, in der das Land von der Sowjetunion dominiert wurde.
Über die Jahrhunderte war Polen, eine der ältesten Kulturnationen Europas, immer wieder dem militanten Druck seiner beiden mächtigen Nachbarstaaten ausgesetzt, im Osten dem der Russen/Sowjets, im Westen dem Deutschlands, das ist zu bedenken. Kriege und unermessliches Leid resultierten daraus. Aber auch tiefsitzende, sich von Generation zu Generation fortpflanzende Vorstellungen über die lebensbedrohenden Gefahren, die von jenseits der Staatsgrenzen kommen können.
Polen hat heute vertraglich gesicherte Grenzen. Aber - was heißt Sicherheit, wenn eine einzige politische Umwälzung über Nacht ein Bündel feinster Verträge in einen Packen Altpapier verwandeln kann?
Die alten Bilder verblassen nicht so schnell. Für einen Polen ist schwer, zu vergessen, dass es Hitler und Stalin waren, die in widerwärtiger Gemeinsamkeit die letzte der vielen Teilungen des Landes vornahmen, und die auch noch auf polnischem Boden als gezielte Erniedrigung eine Siegesparade abhielten. Die danach, in der Zeit ihrer heute gern vergessenen trauten Zusammenarbeit zum Beispiel in Zakopane und Zwardon gemeinsame Seminare mit Erfahrungsaustausch über die besten Methoden der Bekämpfung von polnischen "Heckenschützen" abhielten, während die ersten Transporte von polnischen Bürgern in schnell errichtete Lager schon anliefen.
Und dann hört man aus Deutschland, dass dort in den Massenmedien dieser stinkende Nazi-Ausdruck, der Leute von vornherein als heimtückisch und hinterhältig abstempeln sollte, die ihr Land gegen fremde Besatzer verteidigten, bereits wieder alltäglich ist. Auf Kämpfer angewendet, wie es viele Polen damals waren, als es buchstäblich um das Leben der Nation ging. Alte Bilder - neue Bilder. Sie schmerzen, wie Narben bei schlechtem Wetter. Man ist versucht zu fragen, ob es unser liebes Europa schaffen wird, an die Stelle von diesem Chaos endlich einmal eine Lebensrealität zu setzen, in der Vertrauen nicht mehr nur ein Wort ist.
Ich persönlich verstehe aus meiner Kenntnis der Geschichte sehr gut, weshalb Polen sich heute so eng wie möglich mit den USA anfreunden will, einem Staat, der niemals die Grenzen Polens in Frage stellte, nie Landforderungen hatte, in dem über eine Million ausgewanderter Polen als voll akzeptierte Staatsbürger leben, deren Herkunft und Geschichte niemand in den Schmutz ziehen würde - nein, auch nicht, wenn irgendwem Autos abhanden kommen!! Es ist eine Entscheidung, die versucht, die Lehren aus einer komplizierten Geschichte zu ziehen. Wie weit sie das wirklich tut, unterliegt nicht meinem Urteil. -

Ich bin, wie meine Freunde wissen, ein strikter Gegner der Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten. Deshalb schon lehne ich die Bush-Doktrin rundweg ab, gar nicht zu sprechen über die Napalm- und Clusterbomben-Praxis seiner Feldzüge. Ich glaube auch, dass es nicht gut ist, deutsche Soldaten in ferne Länder zu entsenden, egal mit welcher Begründung. Die allerdümmste hat unlängst der Minister geliefert, als er trompetete, dass die Bundesrepublik Deutschland am Hindukusch in Afghanistan verteidigt wird. Ob er nie davon gehört hat, dass Deutschland schon einmal an der Wolga verteidigt wurde, in Stalingrad? Später noch im polnischen Weichselbogen? Ich registriere solche Dinge mit wachsendem Befremden. Auch wenn der oberste Regierer lauthals tönt, Deutschland "habe bei weltpolitischen Entscheidungen wieder ein Wort mitzureden"! Aus Polen habe ich im Zusammenhang mit seiner Irak-Entscheidung solche Töne nicht gehört. Es geht um das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, und das ist der polnischen Regierung ein Kontingent Soldaten wert, das ist alles. Eine souveräne Entscheidung, die man nicht bejubeln muss. Aber zu respektieren ist sie.
Um Ihre Zusatzfrage zu beantworten: Auch ich bin gespannt, wie die polnische Regierung ihren Bürgern die Sache erklären wird. Sie ist in jedem Falle als Ausdruck eines Selbstwertgefühls zu begreifen, das besser als manches Hindukusch-Statement offenbart, wie schwer nationale Geschichte auch in der neuen Gemeinschaft Europa noch für lange Zeit wiegen wird.


Herr Gr. in W.:
Ich lese, dass Sie im heute zu Polen gehörenden Gebiet zuhause waren. Wie beurteilen Sie die zwischen Polen und Deutschen hin und her gehende Debatte um ein deutsches Vertriebenenzentrum, bzw. Denkstätte?

Harry Thürk:
Wenn ich Pole wäre, würde ich mir nicht gern unerbetene Ratschläge darüber anhören, wo und wie und welches Denkmal ich in meinem Lande haben will. Und ich hätte ganz sicher die Kraft, mir vorzustellen, dass das im umgekehrten Falle ganz ähnlich wäre.
Da ich Deutscher bin, würde ich mir sowieso nie die Ungezogenheit erlauben, an mein Nachbarland Ratschläge zu adressieren, die man dort leicht als Einmischung in eigene Angelegenheiten empfinden kann. Gedenkstätten sind eine Sache, bei der Emotionen eine starke Rolle spielen, und nichts scheint mir unangebrachter, als zwischen Polen und Deutschen schon wieder Emotionen aufzurühren. Deshalb schon halte ich diese Hinterbänkler-Debatte für alles andere als nützlich.
Außerdem bin ich bei aller Skepsis, die ich im Hinblick auf gewisse Entwicklungen in unserem Staat habe, doch stolz darauf, dass Faschismus und Revanchehetze bei uns so radikal gebändigt wurden und weiter werden, dass kein Nachbarland wegen eines Denkmals Deutschland mehr fürchten muss.
Deshalb bin ich dafür, dass jeder Staat im Rahmen seiner eigenen Gesetze den Bau von Gedenkstätten regelt und davon absieht, sich in das Denkmalsrecht seiner Nachbarn einzumischen. Lautstarke Belehrungen wirken hier nicht hilfreich, sondern provozierend. Die so hitzig debattierenden Randfiguren in beiden Ländern, aber auch die ernstzunehmenderen Politiker täten gut daran, wenn sie ihre Energien lieber auf die Zukunft richten würden, statt Menschen oberlehrerhaft zu rüffeln, die etwas zu betrauern haben. In beiden Ländern...


Herr G. aus W.:
Ich nehme an, Sie verfolgen das was im Zuge der Aufarbeitung von DDR-Geschichte an Literatur herauskommt. Befriedigt sie das? Oder haben Sie Vorschläge, was da noch zu machen wäre?

Harry Thürk:
Oh ja, die hätte ich schon. Allerdings kann ich über den belletristischen Teil im Literaturangebot nicht so recht urteilen, weil ich sehr wenig Belletristik lese, meine Vorliebe gilt der Dokumentation. Und da gibt es eine ziemlich große Auswahl. Nicht nur bei DDR-Themen, sondern überhaupt: vom Dalai Lama bis zu Angelica Domröse, von Scholl-Latour bis Ulfkotte - alles lesenswerte Sachen. Auch über die DDR-Geschichte gibt es (neben dem branchenüblichen Schrott) durchaus ernsthafte, akribisch eruierte Arbeiten, die man mit Gewinn liest.

Wenn Sie mich nach Zusatzvorschlägen fragen, so riskiere ich als Querdenker vielleicht manchen missbilligenden Aufschrei, aber ich führe einiges, worüber ich im Zusammenhang mit DDR und Wiedervereinigung noch gern lesen möchte, trotzdem an: Über die Hintergründe des Attentats auf den Wirtschaftspolitiker Rohwedder würde ich gern Genaueres erfahren. Der Mord ist inzwischen ein Jahrzehnt her und es wird lediglich verbreitet, die RAF habe ihn ausgeführt. Beweise dafür gibt es aber nicht. Dabei ist doch die deutsche Fahndung sonst so erfolgreich, etwa wenn es um vermeintliche Terroristen geht. Warum versagt sie so völlig bei der Aufklärung des Falles Rohwedder, der erster Chef der "Treuhand" war? Galt das Attentat seinem Amt? Wenn ja, dann erhebt sich die Frage: Welches Interesse hatte ausgerechnet die RAF an der Störung der "Treuhand"-Tätigkeit? Kurz: dies ist doch ein Stoff für Dok-Leute. Oder? Ist es etwa "p.c.", darüber zu schweigen? Dann wiederum: Warum?

Kürzlich hielt der ehemalige BRD-Finanzminister Theo Waigel in der Berliner Humboldt-Universität einen Vortrag. Dabei erzählte er, wie er zusammen mit F.J. Strauß im Rahmen der Wiedervereinigungsaktivitäten nach Moskau reiste, um M. Gorbatschow 17 Milliarden D-Mark zu überbringen.
Der "Spiegel", eine bei solchen Angaben absolut verlässliche Zeitschrift, gab bereits früher an, M. Gorbatschow habe "für die Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung" zwischen 1989 und 1991 insgesamt 63 Milliarden D-Mark aus der BRD kassiert. Weltpolitische Entscheidungen mit Schmiergeld? Oder was? Ich bitte um Verzeihung, wenn ich an mancher Leute Ikone kratze, aber: wofür wurde da gezahlt? Und was wurde aus diesen Geldern? Sind sie jemals irgendwo in Moskau verbucht worden? Da hat man den ehemaligen Kanzler Kohl wegen ein paar lumpiger Millionen Spendengelder einer jahrelangen rufschädigenden Untersuchung unterzogen - sollen dahinter die Milliarden an Herrn Gorbatschow versteckt werden? Und wer hat daran ein Interesse? Warum? Fragen über Fragen. Der Gentleman in Moskau lebt noch - warum wird von ihm keine Auskunft verlangt? Wo ist der Dokumentarist, der diese Vorgänge durchleuchtet und die Wahrheit darüber aufdeckt?

Nicht gleich ein ganzes Buch ergibt die nächste Angelegenheit, vielleicht aber ein aufschlussreiches Feuilleton. Es geht um E. Honecker.
Der ehemalige Staatsratsvorsitzende der DDR war bekanntlich nach Moskau ins Exil gegangen. In Deutschland sollte ein Prozess gegen ihn aufgezogen werden, aber seine Ärzte erklärten, dass die Krebskrankheit, an der er litt, ihn verhandlungsunfähig gemacht habe. Nach Operationen und diversen Behandlungen befand er sich im Endstadium des Leidens.
Trotzdem wurde er von zwei "unabhängigen" sowjetischen Gutachtern plötzlich für "gesund und voll verhandlungsfähig" erklärt, und nach Berlin ausgeliefert. Erst hier, wo ihn zwei deutsche Ärzte erneut untersuchten, stellten die fest, er sei nicht nur infolge seiner Krankheit verhandlungsunfähig, sondern selbstverständlich auch haftunfähig. Das spektakuläre "Nürnberg-DDR-Tribunal", von dem manche Leute geträumt hatten, fiel aus.
Eine typische "Mattglas-nost-Geschichte" ist da abgelaufen. Dass man in Moskau für Geld jedes Gutachten kaufen konnte (und kann), ist bekannt. Mich würde interessieren: wer hat die "Gutachter" bezahlt? Und warum kann man die Herren denn heute nicht darüber befragen, wie das damals lief? Und wer die Fäden zog...?

Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dem alle Ostblockstaaten angehörten, unterhielt an seinem Sitz in Moskau die RGW-Bank. Sie kassierte alle westlichen Devisen, die von den Ländern im Außenhandel, an den Embargos und Beschränkungen vorbei, eingenommen wurden. Wer für devisenträchtige Materialien oder Geräte Valuta brauchte, musste sie beim RGW beantragen. Ein komplizierter Vorgang...
Die RGW-Bank, die über horrende Valutareserven verfügte, weil sie die Vergabe äußerst restriktiv handhabte, verwaltete auch die nicht unbedeutenden Devisenerträge der DDR. Im Zuge der Abschaffung des Sowjetsystems wurde auch sie liquidiert.
Mich würde interessieren: Wohin sind diese Devisenreserven verschwunden? Ist jemals etwas zurückerstattet worden? Hat die BRD (als juristischer Nachfolger der DDR) etwas ausbezahlt bekommen? Wie hoch war das Guthaben zur Zeit der Liquidation? Was kann die heutige Moskauer Regierung darüber sagen? Oder will man sie nicht danach fragen? Wenn ja, warum nicht?

Wer schreibt endlich einmal die Geschichte der "Wismut - SAG"? Sie war nicht nur eine hochinteressante Variante einträglicher Besatzungspolitik; dieser von sowjetischen Spezialisten geleitete Betrieb verhalf Moskau zu dem weltweit begehrten, nahezu unbezahlbaren Rohstoff für die Atombombe, und im Zuge dieser Aktion wurden ostdeutsche Bodenschätze von unschätzbarem Wert unkontrollierbar und unbezahlt, als Reparation übrigens nirgendwo mit Wertangaben registriert, aus dem Lande gebracht.
Das ist die eine Seite der Sache. Die andere sind die Menschen, die in den Höhlengängen der Wismut-Stollen unter ständiger Lebensgefahr das Erz zusammenkratzten. Viele starben an Verstrahlung. Nicht wenige Ältere leiden heute höllische Qualen an den Nachwirkungen. Die SAG-Manager dachten, das alles könne mit etwas besserer Entlohnung bezahlt werden oder mit ein paar "Sonderzuteilungen" in Form von Butter, Käse oder Obst. Fragen nach dem Sinn der Sache wurden generell mit dem Hinweis beantwortet, das sei eine wichtige Arbeit für den Frieden. Er wurde sozusagen "in den Wismut-Stollen des sächsischen Erzgebirges verteidigt". (Wie heute die Sicherheit der BRD in den Bergen des Hindukusch!)
Mir ist nicht bekannt, dass unseren Landsleuten in den alten Bundesländern von ihren Besatzungsmächten Ähnliches abverlangt wurde. Jüngere Mitbürger in Ost wie West wissen von der "Wismut" kaum noch etwas. Dabei ist das ein lehrreiches Kapitel darüber, wie ein Teil der Deutschen (im Osten) nach dem zweiten Weltkrieg an die eine Siegermacht dafür zu zahlen hatte, während der andere (im Westen) sich der Hilfe durch den Marschall-Plan erfreuen durfte. Ein Stück deutscher Geschichte, wie es auch Jung-Politiker, die heute über zu hohe Renten und Kürzungen bei der Gesundheitsfürsorge schwätzen, erst einmal in ihrem Hirn unterbringen sollten.
Soll das vergessen werden oder nicht? Mir erscheint die Kenntnis solcher Vorgänge wichtiger als die eine oder andere Show mit Ost-Identifikationsfiguren. Oder das Gelaber über Pionier-Halstücher, fehlende Bananen, schlechten Kaffee, unmoderne Schuhe und ähnliche "Wichtigkeiten"...

Damit soll es erst mal genug sein, obwohl die Aufzählung durchaus weitergehen könnte. Es würde mich freuen, Herr G., wenn Ihre Frage und meine Antwort vom einen oder anderen Dokumentaristen als Anregung verstanden würden.


Herr W. aus Z.:
Ich höre in den Medien immer wieder, Vertreibungen, z.B. auf dem Balkan, wären völkerrechtswidrig. Unlängst erklärte der Bundeskanzler vor deutschen Vertriebenen, jede Vertreibung sei ein Verbrechen. Gilt das auch für die von den alliierten Siegermächten 1945 verfügte Vertreibung der Ostdeutschen? Haben auch sie damals gegen das Völkerrecht verstoßen?

Harry Thürk:
Das haben sie, denn es gibt kein 2-Klassen-Völkerrecht, und sie haben die Vertreibung der Deutschen mit veranlasst. Dass sie das unter dem Eindruck der ungeheuerlichen Verbrechen Hitler-Deutschlands taten, stellt keine Rechtfertigung dar.
Laut Gunnar Heinsohns "Lexikon der Völkermorde" (Rowohlt, 1999) wurden von ca. 16,6 Millionen Deutschen, die 1945 im damaligen Ostdeutschland sowie im benachbarten Osteuropa lebten, bis Mitte der 60er Jahre ca. 14,2 Millionen vertrieben und ihrer Habe beraubt.
Insgesamt 2.110.000 kamen bei der Vertreibung ums Leben. Dass darüber immer nur mit gedämpfter Lautstärke gesprochen wurde - wenn überhaupt -, war wohl dem Respekt gegenüber den Siegermächten geschuldet. Dass aber selbst nicht wenige Historiker einen Bogen um diese heikle Problematik machten, um "politische Korrektheit" bemüht, und um möglichst bei keiner der neuen Zeitgeistfreundschaften unter Staatsmännern anzuecken, ist letztlich für ein sehr verschwommenes Bild der Vorgänge verantwortlich.
Leider überließen es die Herren der Deutungshoheit in der Vergangenheit allzu oft rechtslastigen bis faschistischen Schreibern, die tatsächlichen Hintergründe aufzulisten. Was der Glaubwürdigkeit sonst redlicher "Geschichtsbewältiger" nicht immer dienlich war. Es lohnt sich deshalb, einen neutralen Blick hinter den Vorgang "Vertreibung 1945" zu werfen...
Das Anti-Hitler-Bündnis der drei Mächte (SU-USA-GB) litt an der Erbkrankheit einer jeden Koalition, der Unterschiedlichkeit eigener Interessen bei gemeinsamem Ziel. So galt das Engagement der beiden westlichen Staaten vornehmlich der Niederschlagung des deutschen Faschismus, der mit seiner Mordpolitik ganz Europa zu einem Vorraum der Gaskammern seiner KZ's zu machen drohte. Da war Verteidigung der Humanität, der Menschenrechte und des Lebens - etwa der von Hitler zur Ausrottung bestimmten Juden - eindeutig das Motiv, wenngleich natürlich auch politische und wirtschaftliche Eigeninteressen eine Rolle spielten. Und das muss natürlich auch heute bei der Bewertung alles dessen, was sie taten, gewürdigt werden, wobei Fehlentscheidungen nicht verschwiegen werden sollten.
Im Falle Stalins, des Dritten im Bündnis, stellen sich die Dinge anders dar. Ein echter Durchblick war für Leute wie uns erst nach dem Ende der DDR und des dominierenden Einflusses der Sowjetunion auf die Geschichtsauslegung möglich.
Bereits im Herbst 1938 hatte Stalin die Spitzenkader der polnischen Kommunistischen Partei, die sich auf seine West-Strategie nicht einschwören lassen wollten, beseitigt (A. Warski, H. Waletzek, J. Lenski, V. Kostrzewska). Sie wurden nach Moskau beordert und hier kurzerhand erschossen. Eine Riege neuer, stalintreuer polnischer KP-Funktionäre war bereits "im Training", als Sowjetunion und Hitlerdeutschland ein Jahr später (23.8.1939) ihren sogenannten Nichtangriffspakt schlossen, dessen (vorerst geheimes) Zusatzprotokoll die "Neuordnung der beiderseitigen Interessensphären" regelte. Darin befindet sich (in §2) der bemerkenswerte Satz "Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt." Das war die Vorwegnahme der künftigen deutsch-sowjetischen Grenze, denn weiter heißt es in §2: "Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen, und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden." Das war die Ankündigung der 4. Teilung Polens. Sie erfolgte unmittelbar nach dem Ende der aufeinander abgestimmten Feldzüge beider "Zangenstaaten", von denen Stalin in einem Toast auf dem Siegesempfang im Kreml erklärte, ihre Freundschaft sei jetzt "... mit Blut besiegelt". Über das polnische Blut sagte er nichts, während seine Geheimpolizei aus dem von ihm besetzten Teil Ostpolens eine Viertelmillion Kriegsgefangene und etwa eineinhalb Millionen "gefährlicher" Zivilbürger in Lager am Polarkreis abtransportieren ließ. Ein Vorgang, der auf der deutschen "Interessenseite" sein alle Vorahnungen an Grausamkeit übertreffendes Gegenstück fand: die "Neuordnung", wie das zynisch genannt wurde, nahm ihren Lauf. Bis Hitler dann 1941 die Sowjetunion angriff und sich der Widerstand gegen seine Barbarei auch durch den Eintritt der USA in den Krieg in eine neue Dimension bewegte. Sie sah die Westmächte und Stalin als Alliierte. -

Der Krieg kehrte dahin zurück, von wo er ausgegangen war. Die beiden Repräsentanten der westlichen Großmächte begannen, mit ihrem sowjetischen Verbündeten die Zukunft Deutschlands zu erörtern, das in absehbarer Zeit besiegt sein würde. Unvermeidlich kam das Schicksal Polens ins Gespräch, dessen Exilregierung in London residierte. 108.000 km² ostpolnischer Landfläche hatte Stalin das Geschäft mit Hitler eingebracht. Und er erklärte seinen neuen Alliierten auf ihre eher beiläufige Nachfrage, dass dieses Territorium inzwischen unweigerlich zur Sowjetunion gehöre. Aber er hatte sich auf die Frage sehr gut vorbereitet, und jetzt öffnete er die Klappe zu seiner geschickt konstruierten Falle: Selbstverständlich müsse Polen für diese Landabgabe entschädigt werden, am besten geschähe das, indem es sich territorial nach Westen ausdehne, auf Kosten des Angreifers Deutschland. Etwa bis zur Oder...
Die Westalliierten waren erleichtert, weil sich abzuzeichnen begann, dass Stalins Armeen die größte Last des Krieges in Europa zu tragen begannen. Das sparte ihnen hohe Verluste an Menschen. Und sie würden diese Armeen Stalins vor allem in Fernost brauchen, im Kampf gegen die mächtige militär-industrielle Konzentration Japans in der Mandschurei. Schon heute forderte der Pazifik-Krieg den USA Verluste in kritischer Höhe ab. Also musste man Stalin in dieser ostpolnischen Frage entgegenkommen: Sie stimmten der von "Väterchen" listig vorgeschlagenen "Gebietsverschiebung" zu. Brachten lediglich die unverbindliche Floskel an, die nötig werdende "Umsetzung" von Bevölkerung müsse auf eine humane Art vollzogen werden. Skizzierten bereits die Grenzen ihrer Interessensphären im besiegten Deutschland, die späteren Besatzungszonen. Ebneten mit ihrer Zustimmung, einer fatalen Fehlentscheidung, Stalin den Weg bis an die Elbe, denn Polen, in das die in Moskau bereitstehende neue Politiker-Riege nach der Befreiung zum Regieren einrückte, endete nun an der Oder, und westwärts, wo nach dem Sieg die "Gruppe Ulbricht" einzog, lag die sowjetisch besetzte Zone - Polen sozusagen als Durchgangsland in die "westliche Bastion des sozialistischen Lagers". Wie das weiterging, als die Westmächte und ihre verbündeten dann gegen die Sowjetunion und ihre "Volksdemokraten" den Kalten Krieg führten, das wissen wir. Erlebten es bis zum Ende mit...

Bleibt zu sagen, dass ich das alles absichtlich etwas breit dargestellt habe, um möglichst viele Denkanstöße auch für andere Schlussfolgerungen zu bieten. Ich persönlich halte das Vorgehen der Westmächte in der Vertreibungsfrage nicht für einen gezielten Bruch des Völkerrechts, sondern für einen Verstoß, der aus einer Fehlentscheidung in einer Detailfrage entsprang. Absolut nicht etwa vergleichbar mit Hitlers Völkermord, bei dem ein Verbrechen nach dem anderen das Völkerrecht gezielt verhöhnte.
Beklagenswert, dass diese Fehlentscheidung den beiden Leidtragenden der Vertreibung, Deutschen und Polen, deren Verhältnis zueinander ohnehin zerstört war, diese zusätzliche Hypothek aufbürdete, die bis heute keineswegs abgetragen ist. Man kann nur hoffen, dass vernünftige Leute aus beiden Völkern diese Arbeit fortführen.


Herr Go. in Se. (Alt-BRD):
Haben Sie kürzlich im TV die Ostalgie-Shows gesehen?
Und möchten Sie nun auch die DDR zurück haben?

Harry Thürk:
Show-Programme sind nicht so sehr mein Geschmack, wenn ich mich unterhalten will - ich habe in eines von denen die Sie meinen nur kurz hineingeschaut und kann daher nicht viel darüber sagen. Aber sie entsprechen wohl dem Wunsch vieler meiner Landsleute, und das verstehe ich schon. Erinnern und Wiedererkennen tun oft der Seele gut. Deshalb sollte man den Wunsch danach nicht verketzern. Wer sich nicht erinnern will (einige Millionen ehemaliger DDR-Bürger haben von den vier Jahrzehnten, die sie in dem Staat verlebten, ja nicht nur schlechte Erinnerungen), der soll einen anderen Sender einschalten. So verstehe ich Freiheit der eigenen Entscheidung. -
Was mich persönlich angeht, so bin ich Realist genug, um zu wissen, dass man Vergangenes nicht zurückholen kann, selbst wenn man das möchte. Was bei mir nicht der Fall ist, denn ich habe schon immer in der Gegenwart gelebt und tue das auch jetzt. Ich glaube, dass auch die meisten ehemaligen DDR-Bürger das tun. Deshalb begegne ich solchen Behauptungen, sie würden die Ostalgie-Shows nur sehen, weil sie sich die DDR zurück wünschten, mit großer Skepsis. Sie sind mir zu laut, zu exhibitionistisch, zumal ihre Verbreiter meist noch mit solchen epochalen Bekenntnissen aufwarten, die selbst routinierte Marktschreier in den Schatten stellen, etwa dass einem von Mona-Kaffee Erbrechen befiel, von Vita-Cola erst recht - ich habe den Verdacht, dass sich da politische Nomaden oder zu spät kommende Chancenjäger demonstrativ als ungeheuer "politisch korrekt" anpreisen wollen, vielleicht in der Hoffnung, dass doch mal ein Beamtenpöstchen dabei herausspringt. Erbärmlichkeit hat viele Gesichter...
Ich selbst habe schlimme wie auch schöne Erinnerungen, verteilt auf unterschiedliche Gesellschaftssysteme, in denen ich zu leben hatte. Sie sind mir gleich wertvoll. Ohne dass ich eines der Systeme zurück haben möchte, in denen ich sie machte. Und daran würde selbst die perfekteste TV-Show mit den lächerlichsten Erbrechern von irgendeiner Kaffeesorte nichts ändern. Ich würde den Betreffenden höchstens raten, es mal mit Tee zu versuchen.


Frau W. aus E.:
Es gab bis zum Ende des amerikanischen Irak-Krieges meines Wissens kein Publikationsorgan (Zeitung, Radio, TV), das nicht von den Giftstoffen sprach, die im Irak versteckt seien und die ganze Welt bedrohten. Nun wurde dort aber nicht dergleichen gefunden, so dass der gewichtige Grund für den Angriff auf den Irak sich als gegenstandslos erweist. Wie erklären Sie sich, dass der amerikanische Geheimdienst so schlechte Arbeit leistete?

Harry Thürk:
Ich habe die Behauptungen über die irakischen Gifte immer für psychologische Kriegsvorbereitung gehalten, nicht für Aufklärungsergebnisse der CIA. Die brauchte da nichts aufzuklären, was mit der angeblichen Weltbedrohung durch irakische Gifte zusammenhing. Der Krieg war beschlossene Sache und diente einem völlig anderen Zweck als der Prävention von Giften. Heute spricht der US-Außenminister von einer "Neuordnung im Vorderen Orient". Diesen anrüchigen Begriff habe ich von 1939 in Erinnerung, da ging es (dem damaligen deutschen Außenminister) um die "Neuordnung Europas". Sprache ist nun einmal verräterisch, und ob einem Vergleiche passen oder nicht, sie drängen sich einfach auf. -
Der "Neuordnungskrieg" gegen den Irak wurde seit Jahren von Werbeagenturen in den USA systematisch vorbereitet, durch die gezielte Verbreitung von Horror-Meldungen z.B. über Gifte, die dort angeblich nach dem ersten Ölkrieg von Bush-Vater versteckt worden waren. Dabei hätte ein Chemie-Student im 2. Semester den Werbestrategen sagen können, dass die fraglichen Gifte wie etwa Tabun oder Sarin, auch übrigens das vielbemühte Antrax, eine sogenannte Verfallszeit haben, ähnlich wie Medikamente. Sie beträgt im Höchstfalle 5 Jahre. Danach ist das Zeug (nach der drastischen aber so gut wie nie publizierten Aussage eines UN-Kontrolleurs der ersten Garnitur) bestenfalls noch als Blumendünger verwendbar. Nicht dass die von der US-Regierung für die Anti-Irak-Stimmungsmache bezahlten Werbeleute das nicht gewusst hätten - sie bauten erfolgreich auf die leichte Beeinflussbarkeit, die Leichtgläubigkeit und das Unwissen des Massenpublikums. Die Psychose nahm ihren Lauf. An Meinungsmanipulierern waren - um nur einige zu nennen - etwa die Dame beteiligt, die mit ihrer Agentur "Uncle Ben's Reis" weltbekannt machte, die Washingtoner Agentur Rendon, die schon den Afghanistan-Feldzug vorbereitete, Rudder Finn und andere. (Übrigens macht die deutsche Politik bei der Nutzung solcher Verdummungs-Institutionen keine Ausnahme. "Bild" berichtete am 28.12.02, dass die in Hannover ansässige Werbefirma "Odeon Zwo" insgesamt 29 Millionen Euro aus der Regierungskasse für ihre Dienste erhielt)
Ich rate Ihnen deshalb, im Zusammenhang mit Ihrer Frage zwei Dinge klar zu erkennen und in ähnlich gearteten Fällen zu berücksichtigen:
1.) In dieser Gesellschaft, die so sehr ihren Unterschied zu Diktaturen betont, ist die Freiheit der Information auf dem besten Wege, zur Lüge auf Bestellung (und Bezahlung) zu verkommen.
2.) Öffentliche Zuneigung oder Empörung können von Massenmedien hervorgerufen und so weit gesteigert werden, dass alle Logik verloren geht und die tatsächliche nachweisbare Wahrheit mühelos als "intellektuelle Spinnerei" verketzert werden kann.
Und genau das war bei den "weltbedrohenden Irak-Giften" der Fall.


Herr Ch. in F.:
In Rezensionen über Ihren Roman "Der Gaukler" las ich des öfteren, dies sei "ein Buch gegen den russischen Dissidenten Solshenizyn". Nun habe ich das Buch selbst gelesen und festgestellt, es geht darin gar nicht um Solshenizyn. Nicht einmal sein Name findet sich darin. Können Sie das erklären?
Und können Sie mir die Entstehungsgeschichte des "Gauklers" etwas erläutern?

Harry Thürk:
Immer wenn ein Leser eine Romanfigur mit einer ihm bekannten lebenden Person identifiziert, so ist das seine Sache. -
Wer über die Vorgänge hinter den Kulissen des Kalten Krieges nichts hören will, der sollte den "Gaukler" nicht lesen. Die dort geschilderten Methoden der inneren Aushöhlung unbequemer und missliebiger Staatsysteme sind sowieso inzwischen Geschichte. Diese Technik wurde ja von einer viel einfacheren und gradlinigen, schneller wirksamen abgelöst, seitdem es nur noch eine Weltmacht gibt: der Krieg ist wieder in Mode. Wie erst kürzlich im Irak. Nur dass die Propagandisten ihn nicht mehr "Krieg" nennen, sondern "Militärschlag". Oder "Bewaffnete Aktion". Und dass ihr anstandshalber das Mäntelchen des "Kampfes für Menschenrechte" oder der "Befreiung von einem Diktator" umgehängt wird. Das heilige Gebot des friedlichen Zusammenlebens der Völker durch die strikte Nichteinmischung in fremde Angelegenheiten ist damit drastischer und endgültiger, auch demagogischer ausgehebelt als jemals zuvor.
Wer will, kann auch das ignorieren, lieber seine Ikone pflegen und sollte am besten Comics lesen. -
Übrigens hat der noble Autor, der so gern im Zusammenhang mit dem "Gaukler" genannt wird (und dessen Dokumentation der stalinschen Lager ich ausdrücklich als sehr wichtig empfinde) jüngst ein neues fundamentales Werk vorgelegt. Er hat, etwas lange nach Dr. Goebbels, dessen Theorie schon von den Nazis in meiner Schulzeit verbreitet wurde, die "jüdischen Wurzeln des sowjetischen Bolschewismus" neu entdeckt. Es ist bei den Empfehlern neuer Bücher seltsam still darum. Peinlich, peinlich! Wo man doch bei Walser aus einem Nichts einen Montblanc machte und ganz schnell die schwersten Kanonen auffuhr...
Aber - vielleicht kommt ja doch bald der versöhnliche Rat, "man müsse das alles eben doch etwas differenzierter sehen".
Zum letzten Teil der Frage: Zum Schreiben des "Gauklers" wurde ich letztlich angeregt, weil man mich in einer Moskauer Journalistenkneipe irrtümlich für einen Deutschen aus der damaligen BRD hielt. Es gab da ein "durchschlagendes Bier". Und immer wenn ich es in die Toilette geschafft hatte, stand da ein Russe, hielt mir ein Bündel Manuskriptseiten hin und flüsterte im Verschwörerton: "Tatsachenbericht eines Dissidenten! Du nehmen mit nach Deutschland. Machen Buch. Honorar fifty-fifty - OK?"
Ich bitte, mir zu verzeihen, dass ich danach manch hehre Phrasen nicht mehr für voll nehmen konnte. Aber das lag eben ganz allein an mir...


Frau C. in W.:
Kürzlich erwischte ich im Fernsehen eine Sendung, in der ein Show-Star aus der ehemaligen DDR sehr positiv vorgestellt wurde. Es hieß da, es handle sich um eine "Integrationsfigur für den Osten". Wer oder was soll da wo integriert werden? Und was braucht man, um eine solche Figur zu sein?

Harry Thürk:
Seitdem Regierungen abgelöst und durch andere ersetzt werden können, wobei sich meist auch die von den Regierenden vorgegebene parteipolitische Denkrichtung ändert, hat sich auf diesem Gebiet die sogenannte "Integrationsfigur" eingebürgert, die Leute durch ihr Beispiel in die "neue Wirklichkeit" mitziehen soll, die abwarten und zögern.
Ihr bunter Zwillingsbruder ist schon lange in der Reklamebranche tätig, etwa als Anpreiser von Wärmedecken, Slip-Einlagen oder Tiefkühl-Pizza. Für diesen Job werden vornehmlich Leute engagiert, die eine gewisse Popularität beim "einfachen Volk" besitzen, dem Käufer solcher Waren. Verdienste als Anpreiser können sich Show-Größen, Skandalnudeln, Huren oder sonstige Lichtgestalten erwerben, aber auch Sportler oder ausgediente Polit-Clowns ("Was - diesen BH trägt Mady Plump? Kaufe ich sofort! Wie die will ich auch aussehen!") Es werden königliche Honorare bezahlt. Schließlich macht man sich ja um die Wirtschaft verdient, um den Markt...
Was die Zwillingsschwester "Integrationsfigur" angeht, so kommt sie als eine Art Anpreiserin ins Spiel, wenn etwa eine neue Regierung feststellt, dass größere Teile der an das voraufgegangene Regime gewöhnten Bevölkerung gegen die "neue Wirklichkeit" so misstrauisch sind, dass es bei einer Wahl unliebsame Überraschungen geben könnte. Da braucht man dann aus einem Teil der "alten Bevölkerung" Leute eines gewissen Bekanntheitsgrades als "Mitzieher" der Zögernden. Sie sollen diesen "Miesmachern" glaubhaft einreden oder vorführen, wie wohl man sich doch in der neuen Ära fühlen kann. Sie sorgen dafür, dass ihre misstrauischen Mitbürger da ankommen, wo die Regierung sie haben will.
Für diesen Job sind wiederum ausgediente Sportler gefragt, Show-Größen und Skandalnummern aller Art, aber durchaus auch ernsthafte Künstler, weil unter den Liebhabern der Künste die Zurückhaltung gegen neue Regime erfahrungsgemäß erheblich ist.
Gelohnt wird ebenfalls königlich. Außer in bar auch in Beraterverträgen, Pöstchen, bei Künstlern mit Promotion, mit dem berühmten "Wink" an die Medien, der Einladungen zu Talk-Shows bringt, Ausstellungen, eigene TV-Programme, Auflagenerhöhung durch Aufnahme in den Lehrstoff der Schulen, Doktorhüte, und, und, und...
Übrigens spielt bei einer Figur, die sich dem neuen Regime zwecks Integration verpflichtet, eine etwaige Korruption durch das voraufgegangene System keine Rolle mehr. Sie wird vergessen. Auch die Zugehörigkeiten zu ehemals höchsten Entscheidungsgremien, die offiziell als "Unterdrückungsorgane" gelten, sind unerheblich. Selbst Geschenke der ehemaligen Geheimpolizei in der Größenordnung von Import-Autos oder Villen ("Ach, ich war ja damals noch so jung und begeisterungsfähig, das müssen Sie verstehen...") werden nicht einmal mehr erwähnt. Entscheidend ist die Bereitschaft, als Integrationsfigur zu dienen. (Was manchmal gar nicht so einfach ist, z.B. wenn es sich um einen Sozialstaat handelt, der gerade in einen Überwachungsstaat umgemodelt wird!)
Dass dieses Prinzip auf dem Nachahmungseffekt basiert, auf der Leithammelmasche, darf nicht verwundern. Es zeigt sich da eben eine neue Auffassung von Politik.
Zuletzt die Antwort auf die Frage, was man als Integrationsfigur braucht: Möglichst wenig Selbstachtung, Anstand, Skrupel, Prinzipien. Nützlich ist die Geisteshaltung eines weltanschaulichen Nomaden. Um Himmels Willen keine Moral! Dafür die Bereitschaft, immer dort zu grasen, wo es saftigen Klee gibt.
Wenn Sie glauben, dies alles duftet zu sehr nach Deutschland, lassen Sie sich sagen, dieser "Duft" ist weltweit zu finden. Global, im besten Sinne...