Harry Thürk:
Das haben sie, denn es gibt kein 2-Klassen-Völkerrecht, und sie haben die Vertreibung der Deutschen mit veranlasst. Dass sie das unter dem Eindruck der ungeheuerlichen Verbrechen Hitler-Deutschlands taten, stellt keine Rechtfertigung dar.
Laut Gunnar Heinsohns "Lexikon der Völkermorde" (Rowohlt, 1999) wurden von ca. 16,6 Millionen Deutschen, die 1945 im damaligen Ostdeutschland sowie im benachbarten Osteuropa lebten, bis Mitte der 60er Jahre ca. 14,2 Millionen vertrieben und ihrer Habe beraubt.
Insgesamt 2.110.000 kamen bei der Vertreibung ums Leben. Dass darüber immer nur mit gedämpfter Lautstärke gesprochen wurde - wenn überhaupt -, war wohl dem Respekt gegenüber den Siegermächten geschuldet. Dass aber selbst nicht wenige Historiker einen Bogen um diese heikle Problematik machten, um "politische Korrektheit" bemüht, und um möglichst bei keiner der neuen Zeitgeistfreundschaften unter Staatsmännern anzuecken, ist letztlich
für ein sehr verschwommenes Bild der Vorgänge verantwortlich.
Leider überließen es die Herren der Deutungshoheit in der Vergangenheit allzu oft rechtslastigen bis faschistischen Schreibern, die tatsächlichen Hintergründe aufzulisten. Was der Glaubwürdigkeit sonst redlicher "Geschichtsbewältiger" nicht immer dienlich war. Es lohnt sich deshalb, einen neutralen Blick hinter den Vorgang "Vertreibung 1945" zu werfen...
Das Anti-Hitler-Bündnis der drei Mächte (SU-USA-GB) litt an der Erbkrankheit einer jeden Koalition, der Unterschiedlichkeit eigener Interessen bei gemeinsamem Ziel. So galt das Engagement der beiden westlichen Staaten vornehmlich der Niederschlagung des deutschen Faschismus, der mit seiner Mordpolitik ganz Europa zu einem Vorraum der Gaskammern seiner KZ's zu machen drohte. Da war Verteidigung der Humanität, der Menschenrechte und des Lebens - etwa der von Hitler zur
Ausrottung bestimmten Juden - eindeutig das Motiv, wenngleich natürlich auch politische und wirtschaftliche Eigeninteressen eine Rolle spielten. Und das muss natürlich auch heute bei der Bewertung alles dessen, was sie taten, gewürdigt werden, wobei Fehlentscheidungen nicht verschwiegen werden sollten.
Im Falle Stalins, des Dritten im Bündnis, stellen sich die Dinge anders dar. Ein echter Durchblick war für Leute wie uns erst nach dem Ende der DDR und des dominierenden Einflusses der Sowjetunion auf die Geschichtsauslegung möglich.
Bereits im Herbst 1938 hatte Stalin die Spitzenkader der polnischen Kommunistischen Partei, die sich auf seine West-Strategie nicht einschwören lassen wollten, beseitigt (A. Warski, H. Waletzek, J. Lenski, V. Kostrzewska). Sie wurden nach Moskau beordert und hier kurzerhand erschossen. Eine Riege neuer, stalintreuer polnischer KP-Funktionäre war bereits "im Training", als Sowjetunion und Hitlerdeutschland ein Jahr später (23.8.1939) ihren sogenannten
Nichtangriffspakt schlossen, dessen (vorerst geheimes) Zusatzprotokoll die "Neuordnung der beiderseitigen Interessensphären" regelte. Darin befindet sich (in §2) der bemerkenswerte Satz "Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt." Das war die Vorwegnahme der
künftigen deutsch-sowjetischen Grenze, denn weiter heißt es in §2: "Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen, und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden." Das war die Ankündigung der 4. Teilung Polens. Sie erfolgte unmittelbar nach dem Ende der aufeinander abgestimmten Feldzüge
beider "Zangenstaaten", von denen Stalin in einem Toast auf dem Siegesempfang im Kreml erklärte, ihre Freundschaft sei jetzt "... mit Blut besiegelt". Über das polnische Blut sagte er nichts, während seine Geheimpolizei aus dem von ihm besetzten Teil Ostpolens eine Viertelmillion Kriegsgefangene und etwa eineinhalb Millionen "gefährlicher" Zivilbürger in Lager am Polarkreis abtransportieren ließ. Ein Vorgang, der auf der deutschen
"Interessenseite" sein alle Vorahnungen an Grausamkeit übertreffendes Gegenstück fand: die "Neuordnung", wie das zynisch genannt wurde, nahm ihren Lauf. Bis Hitler dann 1941 die Sowjetunion angriff und sich der Widerstand gegen seine Barbarei auch durch den Eintritt der USA in den Krieg in eine neue Dimension bewegte. Sie sah die Westmächte und Stalin als Alliierte. -
Der Krieg kehrte dahin zurück, von wo er ausgegangen war. Die beiden Repräsentanten der westlichen Großmächte begannen, mit ihrem sowjetischen Verbündeten die Zukunft Deutschlands zu erörtern, das in absehbarer Zeit besiegt sein würde. Unvermeidlich kam das Schicksal Polens ins Gespräch, dessen Exilregierung in London residierte. 108.000 km² ostpolnischer Landfläche hatte Stalin das Geschäft mit Hitler eingebracht. Und er
erklärte seinen neuen Alliierten auf ihre eher beiläufige Nachfrage, dass dieses Territorium inzwischen unweigerlich zur Sowjetunion gehöre. Aber er hatte sich auf die Frage sehr gut vorbereitet, und jetzt öffnete er die Klappe zu seiner geschickt konstruierten Falle: Selbstverständlich müsse Polen für diese Landabgabe entschädigt werden, am besten geschähe das, indem es sich territorial nach Westen ausdehne, auf Kosten des Angreifers Deutschland.
Etwa bis zur Oder...
Die Westalliierten waren erleichtert, weil sich abzuzeichnen begann, dass Stalins Armeen die größte Last des Krieges in Europa zu tragen begannen. Das sparte ihnen hohe Verluste an Menschen. Und sie würden diese Armeen Stalins vor allem in Fernost brauchen, im Kampf gegen die mächtige militär-industrielle Konzentration Japans in der Mandschurei. Schon heute forderte der Pazifik-Krieg den USA Verluste in kritischer Höhe ab. Also musste man Stalin in dieser
ostpolnischen Frage entgegenkommen: Sie stimmten der von "Väterchen" listig vorgeschlagenen "Gebietsverschiebung" zu. Brachten lediglich die unverbindliche Floskel an, die nötig werdende "Umsetzung" von Bevölkerung müsse auf eine humane Art vollzogen werden. Skizzierten bereits die Grenzen ihrer Interessensphären im besiegten Deutschland, die späteren Besatzungszonen. Ebneten mit ihrer Zustimmung, einer fatalen Fehlentscheidung, Stalin
den Weg bis an die Elbe, denn Polen, in das die in Moskau bereitstehende neue Politiker-Riege nach der Befreiung zum Regieren einrückte, endete nun an der Oder, und westwärts, wo nach dem Sieg die "Gruppe Ulbricht" einzog, lag die sowjetisch besetzte Zone - Polen sozusagen als Durchgangsland in die "westliche Bastion des sozialistischen Lagers". Wie das weiterging, als die Westmächte und ihre verbündeten dann gegen die Sowjetunion und ihre
"Volksdemokraten" den Kalten Krieg führten, das wissen wir. Erlebten es bis zum Ende mit...
Bleibt zu sagen, dass ich das alles absichtlich etwas breit dargestellt habe, um möglichst viele Denkanstöße auch für andere Schlussfolgerungen zu bieten. Ich persönlich halte das Vorgehen der Westmächte in der Vertreibungsfrage nicht für einen gezielten Bruch des Völkerrechts, sondern für einen Verstoß, der aus einer Fehlentscheidung in einer Detailfrage entsprang. Absolut nicht etwa vergleichbar mit Hitlers Völkermord, bei dem ein
Verbrechen nach dem anderen das Völkerrecht gezielt verhöhnte.
Beklagenswert, dass diese Fehlentscheidung den beiden Leidtragenden der Vertreibung, Deutschen und Polen, deren Verhältnis zueinander ohnehin zerstört war, diese zusätzliche Hypothek aufbürdete, die bis heute keineswegs abgetragen ist. Man kann nur hoffen, dass vernünftige Leute aus beiden Völkern diese Arbeit fortführen.
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