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Primärliteratur

   QUELLENTEXT
Titel Ein neues Leben begann
Autor Harry Thürk
Herausgeber Wolfgang Paulick
Publikation Junge Schriftsteller der Deutschen Demokratischen Republik in Selbstdarstellungen
Verlag, Ort, Jahr VEB Bibliographisches Institut, Leipzig 1965
Seitenangabe S. 63-70, S. 190 (Bibliographischer Anhang)
   
Textart Autoporträt, Volltext
Textstruktur 8 Punkt mit Serifen, Blocksatz, 1 s/w-Bild.
   
Achtung: An einigen Stellen im unteren Text (S. 190) wurden redaktionelle Anmerkungen [kursiv in eckigen Klammern] zur Korrektur von im Originaltext vorkommenden Schreibfehlern eingefügt.

Harry Thürk

Harry Thürk, Illustration: Harald Kretzschmar

Es fällt mir schwer zu entscheiden, ob ich ein guter oder ein schlechter Schüler gewesen bin. Zwar lagen meine Zensuren immer ein wenig über dem Durchschnitt, aber dafür kam ich mit meinen Lehrern nicht allzu gut aus. Das hatte verschiedene Ursachen. In einer Kleinstadt, wie es mein Heimatort war, kannte einer den anderen. Man beobachtete die Lebensgewohnheiten des anderen und registrierte dessen Schwächen. Daran mochte es liegen, daß mir bereits als Schuljungen die Fähigkeit abging, prinzipiell vor jedem Erwachsenen Respekt zu haben. Ich erinnere mich nur an sehr wenige Leute, vor denen ich Respekt hatte. Meine Lehrer und späteren Vorgesetzten spürten das sehr wohl, weil ich meine Auffassung nicht geheimhielt. Nichts aber bringt einen Erwachsenen so sehr gegen einen jungen Burschen auf als gezielte Respektlosigkeit. Ich entsinne mich, daß ich meinem Schuldirektor, der ein schneidiger Zahlmeister der Reserve war, einmal nicht die Frage beantworten konnte, wann Bismarck geboren wurde. Daraufhin riet er mir, zu überlegen, ob es für mich nicht besser wäre, mit meiner krummen Nase Kartoffelfurchen zu ziehen, als in seinem Klassenzimmer unnötig Sauerstoff zu verbrauchen. Auf diesen Zynismus reagierte ich mit gleicher Münze, indem ich meinerseits dem Herrn Direktor die Frage stellte, weshalb er eigentlich geheiratet habe, wenn es ihm mindestens zwei Nächte je Woche bei Fräulein F., unserer Geografielehrerin, besser gefalle als zu Hause. Meine vierzig Mitschüler veranstalteten daraufhin ein schadenfrohes Gekicher. Die Verhandlung über meine Unbotmäßigkeit wurde für den nächsten Mittag festgesetzt. Der Herr Direktor aber beging den Fehler, die dazwischenliegende Nacht – wohl mit Beratungen angefüllt – bei eben jenem Fräulein F. zu verbringen. In dieser Nacht schlief ich nur wenige Stunden. Den Rest verbrachte ich in der Nähe der Wohnung, in der das Tête-à-Tête stattfand. Als dort das Licht gelöscht wurde, rührte ich eine Handvoll Gips an und verstopfte damit fachmännisch das Türschloß. Es gab kein Entkommen: die Wohnung lag im dritten Stock. Am Morgen war ich zwar unausgeschlafen, aber siegessicher. Mit etwa der Hälfte meiner Klassenkameraden erschien ich – ganz zufällig – vor dem Haus, als soeben ein eiligst herbeigerufener Schlossergeselle das Türschloß gewaltsam öffnete und die beiden Eingeschlossenen befreite. Wir sorgten dafür, daß in der Zehn-Uhr-Pause bereits alle Schüler laut lachend ihre Witze über den ärgerlichen Vorfall machten. Die für Mittag angesetzte Verhandlung fiel aus. Sie fand überhaupt nie statt. Seitdem galt ich als »gefährliches Element«, was mich nicht weiter störte, denn die Schulzeit war für mich ohnehin bald zu Ende.
Weshalb erzähle ich gerade diesen etwas pikanten Fall? Ich glaube, daß solche und ähnliche Dinge mir den ersten Anreiz gaben, Charaktere von Mitmenschen zu studieren, Größe oder Schäbigkeit, Ehrlichkeit oder Verlogenheit darin zu entdecken, Handlungen auf Beweggründe und Ursachen hin zu durchleuchten. Das wurde in der Folgezeit zu meinem allerliebsten Hobby. Erst viel später stellte ich fest, daß dieses Hobby dazu führen kann, mit dem Schreiben von Geschichten über Menschen und ihre Charaktere zu beginnen. Zunächst ging ich »auf Arbeit«, wie man bei uns sagte. Ich hatte im Laufe meiner Schulzeit die verschiedensten »Berufswünsche« gehabt: Jäger, Löwenbändiger, Perlentaucher, Rennfahrer, Flieger, Reporter, um nur einige zu nennen. Aber aus diesen Träumen wurde verständlicherweise nichts. Verständlicherweise, weil man in einer ostoberschlesischen Kleinstadt, während des Hitlerkrieges, einen Schulentlassenen nicht sehr eingehend nach seinen Wünschen zu befragen pflegte. Aus diesem Grunde entschied ich mich, bei der Eisenbahn zu arbeiten. Das schien noch die beste Chance zu sein, einmal die Nase ein bißchen in den Wind zu stecken.
Es dauerte siebzehn Jahre, bis ich über die Zeit, in der ich im östlichen Teil Oberschlesiens bei der Eisenbahn arbeitete, ein Buch schrieb. Es ist trotzdem kein autobiographisches Buch, aber es gehört zu denen, die ich, im Gegensatz zu einigen anderen, nicht mehr ungeschehen machen möchte.
Etwa ein Jahr lang mußte ich noch als Soldat am Krieg teilnehmen, bevor das braune System endlich zusammengeschlagen wurde. Obwohl ich nicht unmittelbar von Antifaschisten beeinflußt wurde, konnte ich mich für den Firlefanz unter dem Hakenkreuz nie erwärmen.
Instinktiv hielt ich mich davon fern, ohne viel darüber nachzudenken oder zu sprechen. Trotzdem blieb es mir nicht erspart, Soldat zu spielen. Zunächst tat ich das nicht widerwillig, denn man hatte mich immerhin so erzogen, daß mir der Kriegseinsatz als Soldat ziemlich selbstverständlich erschien. Gedanken über das Warum kamen mir erst später, als mir die Realität des Kriegsalltages plötzlich ganz neue Überlegungen aufdrängte. Das Ende des Krieges brachte für mich nicht nur die Erkenntnis, daß ich gemeinsam mit meiner ganzen Generation auf die widerwärtigste Weise belogen worden war, es verwurzelte auch die Überzeugung in mir, daß es das deutsche Volk aus eigenen Kräften nicht hätte schaffen können, das braune System von Lüge, Gewalt und Terror abzuschütteln. Die Sowjetarmee hatte den Löwenanteil dieser historischen Aufgabe für uns bewältigen müssen, und uns damit – unter hohen Blutopfern – den größten Dienst erwiesen, den ein Volk einem anderen überhaupt erweisen kann. Diese und ähnliche Überlegungen bewirkten, daß ich plötzlich so etwas wie Freude am selbständigen Denken bekam, daß ich geradezu gierig alles in mich aufnahm, was dazu beitragen konnte, mir ein Weltbild zu schaffen, eine wissenschaftlich fundierte Vorstellung von der Welt und der Zeit, in der ich lebte.
Es dauerte vom Ende des Krieges noch zwölf Jahre, bis ich einen Roman veröffentlichte, in dem ich darzustellen versuchte, in welch eine tragische Situation meine Generation von den faschistischen Verbrechern getrieben worden war: Junge Menschen waren nach jahrelanger, gezielt faschistischer Erziehung zu Werkzeugen jenes unmenschlichen Systems gemacht worden und hatten nicht die Kraft und den Weg gefunden, sich selbst zu befreien.
Ich glaube nicht, daß es mir gelungen ist, dieses Problem in meinem Buch allseitig zu beleuchten. Aber ich betrachte es als einen Versuch der Menschengestaltung, der andere Schriftsteller meiner Generation ermuntert hat, sich ebenfalls, und zwar intensiver, mit dem gleichen Problem auseinanderzusetzen. Über mein Buch ist viel gesprochen worden. Es fehlte nicht an eifernden Alleswissern, die außerordentlich unangebrachte Behauptungen aufstellten, aber geholfen haben mir vor allem jene Kollegen, die mir freundschaftlich ihren Rat und ihre eigene Lebenserfahrung vermittelten, ihr Wissen und ihre Erkenntnisse. Dafür gebührt Ihnen nicht nur mein Dank, sondern mein allergrößter Respekt. –
Es ist sicher nicht übertrieben, wenn ich sage, daß für mich mit dem Jahre 1945 das Leben neu begann. Es war ein reicheres, bewußteres Leben. Ich siedelte nach Weimar um, wo ich mir Arbeit suchte. Ich war damals noch jung, und es zog mich zu der sich organisierenden antifaschistischen Jugend, die das neue, bessere Deutschland mit aufzubauen half. In ihrer Gemeinschaft fand ich den Weg zur Partei der Arbeiterklasse. Um diese Zeit machte ich meine ersten Schreibversuche und stritt mich darüber heiß und lange in den Tagungen der ersten Arbeitsgemeinschaft junger Autoren, die damals in Thüringen entstand. Es waren Ältere und Gleichaltrige, die mir weiterhalfen, die mich je nach Lage der Dinge kritisierten oder lobten. Und es war die neue Demokratie, die in unserem Teil Deutschlands damals entstand, die mich ermunterte, mein Talent zu entwickeln, die fördernd und helfend eingriff, die mich mit dem Mut zum Schreiben erfüllte und Millionen Arbeitern und Bauern gleichzeitig die Freude am Lesen anerzog. – Für manche jungen Männer, die einen Krieg erlebt haben, war es schwer, danach einen Beruf zu erlernen. Es gibt nicht wenige Bücher, in denen das beschrieben wurde. Für mich war es eine Freude, gleichsam Erfüllung eines lange gehegten Wunsches. Ich hatte neben solchen Phantasieberufen wie Perlentaucher, Löwenbändiger und Rennfahrer einmal Reporter werden wollen. Damals ahnte ich nicht, daß es die Arbeiter-und-Bauern-Macht sein würde, die mir diesen Wunsch erfüllte. Ich erinnere mich, daß ich mich mit einem guten Freund beriet, der 1946 seine ersten Gedichte schrieb, und der damals Journalist war. Mit ihm sprach ich über meine Neigung zum Reporterberuf. Er ermunterte mich. Wenig später erschien ich im Büro der damaligen sowjetischen Nachrichtenagentur SNB und erklärte dem Chefredakteur dieser Zweigstelle, der heute noch als TASS-Korrespondent in der DDR weilt: »Verzeihen Sie die Störung; ich möchte Reporter werden. Kann ich das bei Ihnen versuchen?« Er lächelte. Aber er nahm mich ernst. Als ich das Büro verließ, waren einige Stunden vergangen. Am nächsten Morgen fing ich an, das ABC der Berichterstattung zu erlernen. »Ein Reporter muß gut hören, gut sehen und gut schreiben!« erklärte man mir. Nichts einleuchtender als das! Aber galt das nicht gleichermaßen für einen Geschichtenschreiber? (Ich hätte es damals um nichts in der Welt gewagt, mich etwa als Schriftsteller zu bezeichnen!) Sehr bald fand ich heraus, daß mein neuer Beruf und meine Neigung zum Schreiben sich geradezu ideal ergänzten. Und obwohl ich durchaus nicht mehr im Lehrlingsalter war, entschloß ich mich, noch zusätzlich den Umgang mit der Kamera zu erlernen. Man sah mich in meiner neuen Heimatstadt Weimar in jenen Jahren fast immer dort, wo »etwas los war«. Ob Wilhelm Pieck in der Weimarhalle sprach oder ob Aktivisten ausgezeichnet wurden, ob an der Falkenburg ein Fußballspiel stattfand oder das Nationaltheater eröffnet wurde – meist flitzte da ein junger Mann mit einer Kamera herum, zuweilen mit einem offenen Blitzlicht, das eine abscheuliche Qualmwolke erzeugte, immer aber trug er einen abgewetzten grünen Plüschhut, jedenfalls im Winter. Auf der Suche nach Neuem, Interessantem, kroch dieser junge Mann in Kalischächte und kletterte auf Drehkräne, er trieb sich in der Maxhütte herum und auf der Wartburg, bei den Glasbläsern in Lauscha und in den Blumenzüchtereien Erfurts, auf Talsperrenbaustellen und in Operationssälen, bei spielenden Kindern und erntenden Bauern. Wer ihn etwas genauer kannte, der wußte, daß er an den freien Tagen und oft spät nachts noch zweierlei tat: entweder schrieb er an Geschichten, oder er vergrub sich in Bücher, die jenes Wissen enthielten, das ihm die Schulklassen in einer oberschlesischen Kleinstadt zur Nazizeit nicht gegeben hatten. Jener junge Mann ahnte damals nicht, daß sein Staat, dessen Werden er Tag für Tag miterlebte und mitgestaltete, ihn etwa zehn Jahre später auf eine weite und lange Reise schicken würde. –
1956 hatte ich bereits meine ersten Bücherveröffentlichungen aufzuweisen, als ich nach Peking flog, um dort an der deutschsprachigen Ausgabe einer Illustrierten zu arbeiten. Es vergingen zwei Jahre, bis ich zurückkehrte. Ich nützte die Zeit. Wenn ich schon zwei Jahre in Asien verbringe, sagte ich mir, dann sollen meine Leser das merken. Heimgekehrt, schrieb ich einiges, das, wie ich glaube, zum besseren Verstehen asiatischer Völker und ihrer Probleme beiträgt. Es wurden recht abenteuerliche Bücher, aber sie haben alle eines gemeinsam: sie zeigen den Menschen in der Auseinandersetzung mit der Unmenschlichkeit. Zu Hause hatte sich manches verändert, als ich zurückkam. Ein neues Medium, das Fernsehen, machte von sich reden. Der Film begann mich zu interessieren. Es gab so vieles zu sehen und zu entdecken, daß es mich immer wieder vom Schreibtisch aufjagte. Einige Bücher entstanden, dann ein Film, der mir und dem Kollektiv, das daran arbeitete, offenbar gut gelang.
Eigentlich sollte ich hier abschließen. Aber ich will noch ein Werkstattgeheimnis verraten, einen Plan, dessen Verwirklichung wohl noch einige Jahre entfernt ist. Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen und lebe auch heute in einer Kleinstadt. Über sie möchte ich einen Roman schreiben, ein schönes, gelungenes Buch, in dem sich das dynamische, oft widerspruchsvolle, lustige und traurige, zweifelsvolle und zukunftsfreudige Leben unseres ganzen Landes gleichsam wie in einem Wassertropfen widerspiegelt.
Menschen voll innerer Größe sollen die Helden sein, Menschen mit Gewißheit und Zweifeln, mit Schönheit und Schwächen; aber auch die Schäbigen und Kleinmütigen, die Dummen und Verdorbenen, die schlau sich tarnenden Gestrigen und die pfiffigen Phrasendrechsler, die Gleichgültigen und Schmarotzenden sollen darin zu finden sein. Von Liebe und Haß, Ehrlichkeit und Untreue, Hingabe und Neid, Aufopferung und Verrat, Güte und Eifersucht soll erzählt werden, kurzum von all jenem, was in unserer Gesellschaft an Neuem kraftvoll wächst und was an Altem abstirbt, um nie wiederzukehren. Ein interessanter Plan? Ein schwieriges Vorhaben? Sicher! Aber mich hat das Leben gelehrt, daß ich in einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten lebe. So vieles, von dem ich als Schuljunge nicht einmal zu träumen wagte, habe ich geschafft. Es wird nur von mir selbst, von meinen Fähigkeiten und von meiner Arbeitsdisziplin abhängen, ob ich auch dieses Vorhaben in die Tat umsetzen kann. Und ich habe mir vorgenommen, es zu schaffen.

Harry Thürk
Nacht und Morgen (Erzählungen), Weimar: Volksverlag 1950;
In allen Sprachen (Reportage), Berlin: Verlag Neues Leben 1953;
Träum von Morgen, Julisca [Julcsa..!] (Reportage), Berlin: Verlag Neues Leben 1953;
Treffpunkt Große Freiheit (Erzählung[en]), Weimar: Volksverlag 1954;
Die Herren des Salzes (Roman), Weimar: Volksverlag 1956;
Täler und Gipfel am Strom (Reportage), Weimar: Volksverlag 1957;
Die Stunde der toten Augen (Roman), Berlin: Das Neue Berlin 1957;
Der Narr und das schwarzhaarige Mädchen (Roman), Weimar: Volksverlag 1958;
Das Tal der sieben Monde (Roman), Berlin: Verlag Neues Leben 1960;
Su-su von der Himmelsbrücke (Kinderbuch), Berlin: Kinderbuchverlag 1960;
Der Wind stirbt vor dem Dschungel (Roman), Berlin: Das Neue Berlin 1961;
Verdorrter Jasmin (Roman), Weimar: Volksverlag 1961;
Lotos auf brennenden Teichen (Roman), Berlin: Das Neue Berlin 1962;

Übersetzungen
Der Himmel muß warten, von Alan Winnington (Roman), Berlin: Das Neue Berlin 1953 [1963];

Film
For eyes only (1963)