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Primärliteratur

   QUELLENTEXT
Titel Tag und Nacht gefechtsbereit
Untertitel Zu Besuch beim diensthabenden System der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung
Autor Harry Thürk
Herausgeber Wolfgang Sellenthin
Publikation Deutscher Fliegerkalender 1969
Verlag, Ort, Jahr Deutscher Militärverlag, Berlin 1968
Seitenangabe S. 109-118
   
Textart Reportage, Volltext
Textstruktur 8 Punkt mit Serifen, Blocksatz mit Vorschub, 10 s/w-Bilder.
Tag und Nacht gefechtsbereit
Zu Besuch beim diensthabenden System
der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung

von Harry Thürk

 

Die Maschinen stehen am Rande der Startbahn – schlanke, silberne MiG-21, schön anzusehen, schnittig. Sprungbereit wie witternde Tiere muten sie an. Der Platz ist relativ ruhig heute. Kein Flugdienst im Augenblick. Hier und da werken ein paar Mechaniker. Posten gehen auf und ab. Aufmerksame Gesichter unter grauen Pelzmützen. Es ist immer noch Winter, obwohl die Sonne bereits kräftiger wird. Das Jagdgeschwader, eine der vielen Einheiten der Luftverteidigung, hat heute nicht seinen betriebsamsten Tag. Gut für einen Besucher, der die Männer kennenlernen will, die den Luftraum der DDR gegen Überraschungen sichern.
Man spürt als Bürger unseres Landes nicht viel von ihrem Vorhandensein. Ab und zu wird man auf den Kondensstreifen eines Flugzeugs am Himmel aufmerksam, hört man den heulenden Ton eines Strahltriebwerks, manchmal ohne das Flugzeug selbst zu erblicken. Der Schlag, der die Luft erzittern läßt, wenn eine Maschine mit Überschallgeschwindigkeit vorüberfliegt, ist uns bekannt, aber sonst? Für den sonntäglichen Spaziergänger im Wald hat der Mann, der hoch oben seine MiG-21 durch den Himmel jagt, kein Gesicht. Er ist zu weit entfernt. Ist er das wirklich? Die Männer, die heute unsere MiGs fliegen, sind nicht in Flugzeugen zur Welt gekommen. Sie haben neben uns gelebt, gearbeitet, sind ebenfalls im Wald spazierengegangen, bevor sie eines Tages die Aufgabe übernahmen, den Himmel über der ersten sozialistischen Republik auf deutschem Boden zu schützen. Es gibt leichtere Aufgaben, bequemere. Eine MiG, die mit Überschallgeschwindigkeit in einigen tausend Metern Höhe dahinbraust, ist ein hochkompliziertes Instrument. Sie reagiert empfindlich, will beherrscht sein. Der Mann im Pilotensitz muß ein Virtuose sein, will er alles an Leistung aus diesem Instrument herausholen, das ihm anvertraut wurde. Man kann einen schweren Lastzug fahren, eine Diesellokomotive, einen Trabant – eine MiG zu fliegen ist etwas anderes: Denn erst wenn man sie meisterhaft beherrscht, wenn man jeden Handgriff buchstäblich im Schlaf ausführen kann, jede fliegerische Aufgabe mit traumwandlerischer Sicherheit zu lösen imstande ist, wird man mit dieser MiG das tun können, wozu sie ausersehen ist, nämlich einen Feind, der in den Luftraum der DDR eingedrungen ist, abfangen, ihn zur Landung zwingen, wenn nötig, ihn vernichten.

Morgens war ich im Gefechtsstand des Jagdgeschwaders gewesen. Eine Schau moderner Technik, die von intensiv ausgebildeten Spezialisten gemeistert wird. Große gläserne Karten, auf denen die Grenzen der DDR eingezeichnet sind, die internationalen Flugtrassen und die Räume, in denen sich Flugzeuge bewegen. Der Luftraumbeobachtung der DDR entgeht kein fremdes Flugzeug, das sich beispielsweise von Westen her unserer Grenze nähert. Radarschirme weisen seinen Standort genau aus, die Flugrichtung, ja, sie lassen für den geübten Operateur sogar Schlüsse auf die Art des Flugzeugs zu. Hier, im Gefechtsstand, ist die Nervenzentrale der modernen Luftüberwachung. Lange bevor ein fremdes Flugzeug unsere Grenzen verletzt, wird es bereits auf dem Radarschirm beobachtet. Dringt es in den Luftraum der DDR ein, ergeht sofort an die Abfangjäger des diensthabenden Systems der Startbefehl. Im Ernstfall können sie in Minutenschnelle am »Tatort« sein. Vom Gefechtsstand aus geleitet, steuern sie auf das fremde Ziel zu, um es zu stellen.
Die Männer des diensthabenden Systems treffe ich in ihrer Unterkunft an, direkt neben ihren aufgetankten, startbereiten Maschinen. Hier wird der tägliche Dienst in den Luftstreitkräften zur absoluten, sekundenschnellen Gefechtsbereitschaft. Für die Flugzeugführer im diensthabenden System kann jeder Startbefehl die Konfrontierung mit dem Gegner bringen, statt einer Übungsaufgabe, wie beispielsweise der Abfangübung an einem Kontrollziel. In der kleinen Unterkunft ist »Sitzbereitschaft«. Der eine der Männer schläft, die anderen beiden lesen. Einer trägt ständig den Druckanzug. Er würde im Ernstfall als erster starten, seine Kameraden würden ihm in knappem Abstand folgen. Für die Männer, die hier auf den Startbefehl warten, ist dies schon eine fast alltägliche Art von Dienst. Piloten im diensthabenden System sind zu jeder Sekunde gefechtsbereit. Zu überraschen sind sie nicht. Sie verfolgen neben ihrem Dienst das Weltgeschehen sehr genau. Für sie gibt es keinen Zweifel über die Richtung, aus der Gefahr für die DDR drohen kann. Sie haben genaue Vorstellungen vom Gegner, von seinen Flugzeugen, ihrer Leistungsfähigkeit, ihrer Bewaffnung. Für sie kann jeder Einsatz die Aufgabe bringen, einen Gegner in der Luft niederzukämpfen, zu vernichten. Das wissen sie, während sie hier sitzen und Maupassant-Novellen lesen, und sie wissen es auch in der Sekunde, in der sie die MiG von der Startbahn hochziehen.
Was sie alles schon erlebt haben, frage ich. Sie erzählen bereitwillig. Oft ist es ein Kontrollziel, das sie anzufliegen haben, um ihre fliegerische Perfektion zu üben, zu steigern. Dann wieder ist es eine ausländische Maschine, die durch Navigationsfehler oder aus Absicht von der ihr vorgeschriebenen Flugtrasse abgewichen ist, ein fremdes Flugzeug, das versehentlich – oder ebenfalls aus Absicht unsere Grenzen überflogen hat. Der Startbefehl für die Piloten des diensthabenden Systems kommt blitzschnell. Ebenso blitzschnell sind sie mit ihren MiGs am Ziel. Und dann heißt es entweder die gestellte Kontrollaufgabe lösen oder das aus der Flugtrasse abgeirrte Flugzeug auf den richtigen Kurs zurückführen. Manchmal aber endet es damit, daß eine solche Maschine durch Signale aufgefordert wird, auf dem nächsten Flugplatz zu landen. Dem betreffenden fremden Piloten ist nur zu raten, dieser Aufforderung zu folgen. Die DDR ist ein friedliches Land. Aber bei Provokationen verstehen wir keinen Spaß. Dafür sind uns die unverhüllt aggressiven Absichten der westdeutschen Militärstrategen zu genau bekannt. Unsere Bürger sollen in Ruhe arbeiten können, sie sollen in Ruhe schlafen oder ihre Freizeit verbringen, ohne Bedrohung aus der Luft. Dafür sorgen die Flugzeugführer des diensthabenden Systems der Luftstreitkräfte: Wer in aggressiver Absicht in den Luftraum der DDR eindringt, wird von ihnen vernichtet. Man ist im Westen vorsichtiger geworden, seit man darüber keine Illusion mehr hat.
Die Männer, die mir in ihrer Unterkunft gegenübersitzen, sind besonnen und gebildet. Es sind keine schießfreudigen Abenteurer, sondern Familienväter, deren Frauen und Kinder nicht weit vom Flugplatz wohnen. Sie sind Arbeiter gewesen, und für sie ist der Dienst bei den Luftstreitkräften der NVA ein Dienst an der Arbeiterklasse und ihrem Staat. Sie fliegen gern, deshalb sind sie hier – und weil sie gut fliegen. Eine seltsame Ruhe geht von ihnen aus, keine hektische Besessenheit, »sich zu beweisen«. Sie wissen, was geschieht, wenn sie ihre Raketen auslösen. Sie kennen den Blitz, den Feuerball, in dem das anvisierte Ziel stirbt. Sie haben es oft genug geübt, nicht nur theoretisch mit Filmstreifen, sondern mit scharfen Gefechtsraketen an fliegenden Übungszielen. Das Wissen um die Vernichtungskraft, die sie in ihren Maschinen mitführen, macht sie ruhig und besonnen. Es gibt in der westlichen Welt Tausende von Leuten, die stolz verkünden: »Gefahr ist mein Beruf – der Tod mein Risiko!«. Bei diesen Männern hier ist das anders. Wenn sie könnten, würden sie jedem Bundeswehrpiloten, jedem Amerikaner, der eine F-4 fliegt, sagen: »Begib dich nicht in Gefahr, meide den Luftraum der DDR, ich bin nicht darauf aus, dich zu töten, aber ich werde das ohne Zögern und blitzschnell tun, wenn du die Warnungen überhörst!«

 

Ich muß an abgeschossene amerikanische Piloten in Vietnam denken, während ich diesen jungen Männern hier gegenübersitze. Mit einigen jener Luftgangster habe ich in Hanoi gesprochen. Sie waren froh, »es überlebt zu haben«. Leute, die bedenkenlos einen verbrecherischen Befehl befolgt und Städte und Dörfer eingeäschert hatten. »Es ist uns eben befohlen worden . . .«, redeten sie sich heraus. Einmal abgeschossen, haben sie nicht mehr den Mut, sich persönlich hinter den barbarischen Befehl zu stellen, den sie bedenkenlos befolgten. Sie fürchten, daß man sie dafür zur Rechenschaft zieht. Die jungen MiG-Piloten im Bereitschaftsraum des Geschwaders lächeln, als ich ihnen das erzähle. Sie wissen längst, wie es um die Moral eines Aggressors bestellt ist. Und ihre Gedanken haben eine völlig andere Richtung: »Wir starten, um unser Land zu schützen, den Sozialismus, den wir bauen. Da ist der Befehl, einen angreifenden Gegner zu vernichten, nichts weiter als die Bestätigung dessen, was wir selbst als notwendig und richtig empfinden.« Der ganze himmelweite Unterschied zwischen einer imperialistischen Söldnerarmee und den Streitkräften eines sozialistischen Landes liegt in dieser Gegenüberstellung wie der Kern in einer Nußschale: Dort der Befehlsempfänger, der wohl oder übel das höchste Risiko auf sich nimmt in Ausführung der barbarischen Befehle – hier der politisch gebildete, denkende Soldat, der sich mit dem Befehl seiner Vorgesetzten identifiziert, weil der Befehl in jedem Fall in seinem eigenen, persönlichen Interesse gegeben wird, im Interesse des Schutzes der sozialistischen Heimat, der Familie, alles dessen, was ihm lieb und teuer und zu dessen Verteidigung er angetreten ist.
Auf dem Korridor der Kaserne des Geschwaders treffe ich den Kommandeur. Er fragt mich: »Wie gefallen dir unsere Piloten?« Ich sage, es sind »richtige Menschen«, und er versteht, was ich meine. Dann treffe ich den Major Heinz Ullmann, einen stellvertretenden Staffelkommandeur, 38 Jahre, einen Erzgebirgler aus Lauter, mit dem gemütlichen Dialekt, der einen sofort an Urlaub auf dem Fichtelberg erinnert. Ullmann erzählt mir gern aus seinem Leben. Er ist der Typ des ruhigen, ausgeglichenen Mannes, den nichts so schnell umwerfen kann. Als Arbeitersohn lernte er bis 1949 das Tischlerhandwerk, dann ging er »zur Wismut«, immer noch Tischler, aber um diese Zeit bereits aktiver FDJler, dessen Weltbild sich immer mehr festigte. »Mein Brigadier in Aue war ein alter, erfahrener Kommunist«, erzählt er, »der hatte einen großen Anteil an meiner Erziehung.« 1952 bezog Ullmann die Pflicht, den Arbeiter-und-Bauern-Staat gegen seine Feinde zu schützen, ganz persönlich auf sich: Er wurde Mitglied einer VP-Bereitschaft, und von hier führte ihn sein Weg zu den Luftstreitkräften der DDR. Es ist der eigentlich unkomplizierte Lebenslauf eines Arbeiterjungen in einem sozialistischen Land. Nur daß Heinz Ullmann eben den Dienst bei der Landesverteidigung nicht »absolvierte« – er faßte ihn als Lebensaufgabe auf. Das Fliegen begeisterte ihn. Er hatte vieles zu lernen, auch nachzuholen, denn acht Jahre Volksschule sind nicht unbedingt das ausreichende Bildungsfundament für einen Flugzeugführer, der mit hochkomplizierten technischen Wunderwerken umgeht. Aber Ullmann schaffte es, weil er klug und fleißig war, weil er den Sinn der Aufgabe begriff und eine ganze Menge persönlicher Interessen erst einmal zurückstellte, um sein Ziel zu erreichen. Mit 29 Jahren nahm er sich endlich Zeit, zu heiraten. »Eine Frau aus Lauter?« frage ich. Er lacht: »Nein! Sie stammt aus dieser Gegend hier. In Lauter war das so . . . immer wenn ich mal auf Urlaub kam, war das Mädchen, auf das ich aus war, bestimmt gerade unter die Haube gekommen . . . Pech, wenn man so selten daheim ist!«
Als er heiratete, flog er bereits eine MiG-17. Die Jak-18, die Jak-11 und die MiG-15 hatte er hinter sich. Mehrere Jahre ist es jetzt her, daß er die MiG-21 fliegt. Nach über einem Jahrzehnt bei den Luftstreitkräften ist ihm der verantwortungsvolle Dienst zur Lebensgewohnheit geworden. Trotzdem hat er seinen vorherigen Beruf nicht ganz vergessen. Im Keller seines Hauses steht eine Hobelbank, und Basteln ist sein Hobby, wenn er nicht gerade Bücher liest. Denn es gibt kaum ein Werk der neueren Literatur, das er nicht kennt. Zuweilen, vertraut er mir an, liest er bis 3 Uhr nachts. »,Die Elenden’, die habe ich förmlich gefressen!« Man kann mit ihm plaudern: über Romane, über seine beiden Kinder, die sommerlichen Wanderungen im Wald mit seiner Familie, über echt erzgebirglerische Weihnachtspyramiden, die er auf seiner Versandhaus-Hobelbank bastelt, über Musik auf dem Akkordeon . . . ein ausgeglichener, vielseitig interessierter Mann. Aus dem Wismut-Tischler wurde der Flugzeugführer-Ingenieur, der Flugzeugführer II. Klasse. Karriere? Heinz Ullmann lächelt. Dabei haben seine Augen immer etwas Verschmitztes. Wer ihn näher kennenlernt, der weiß, daß er sehr ernst sein kann. Hart, wenn es sein muß. »Ich bin an einer Aufgabe gewachsen», sagt er einfach. »Der Flugzeugführer im diensthabenden System unserer Luftstreitkräfte ist der erste, der mit einem Gegner in der Luft zusammentrifft. Unter bestimmten Umständen ist die Verletzung unserer Grenzen durch einen Gegner bereits als Waffeneinsatz gegen uns zu werten. Da haben Sie den Ernst und die Härte der Aufgabe, an der ich gewachsen bin.« Dabei ist er nicht einfach Pilot, sondern auch Vorgesetzter, Stellvertretender Staffelkommandeur. Andere Flugzeugführer sehen in ihm ihr Vorbild. Er selbst bezeichnet den Dienst der Staffel als gute Kollektivarbeit. Der Pilot vollendet das, was viele andere vorbereiten: Funkorter, Funkmeßtechniker, die Männer im Leitstand. Und die Staffel? »Bei uns gibt es keine Schlamperei im Dienst, keine Oberflächlichkeit, kein Zufriedensein mit halben Resultaten. Ein Flug endet mit der Erfüllung der gestellten Flugaufgabe – anders kennen wir das nicht.«
Ob es schwer ist, mit der eigenen fliegerischen Leistung immer Vorbild zu sein, frage ich. Er sagt, es ist nicht leicht, man muß an sich arbeiten, dauernd. Und außerdem: »Bei der Fliegerei gibt es keine Arbeitsteilung im üblichen Sinne. Immer ist es der ganze Mensch, der verlangt wird, physisch wie psychisch. Ein Flugzeugführer muß sein Leben so einrichten, daß er ruhig und ausgeglichen, ausgeschlafen und ohne private seelische Belastungen seinen Dienst antritt. Nur so kann er gute Leistungen bringen. Auch das ist ein Gebiet, auf dem Vorbilder nötig sind. Zuweilen gibt’s da einmal mit dem einen oder anderen gründliche Aussprachen, es gibt Kritik, Ratschläge, Forderungen. Wir sind eine Familie in der Staffel. Freundschaft bis zum Einsatz des eigenen Lebens für den anderen bedeutet nicht Kumpanei . . .« Die Parteiorganisation des Geschwaders leistete einen entscheidenden Anteil der Erziehungs- und Bildungsarbeit unter den Flugzeugführern. Sie ist das Gewissen des Geschwaders. Ullmann freut sich auf das neue Klubhaus des Geschwaders, das bereits im Bau ist. Es wird das gesellige Leben fördern, kulturelle Möglichkeiten eröffnen, den Zusammenhalt zwischen den Piloten stärken. Dann entschuldigt er sich. Der Dienst ruft. Vorbereitung für die Flugaufgaben des nächsten Tages. »Schwierig?« Ullmann winkt ab: »Man muß wissen, was der einzelne beherrscht oder noch nicht beherrscht, wie hoch man ihn belasten kann, und wozu er fähig ist – das gehört zu den Grundlagen der Flugplanung. Wie in einem Betrieb – da muß man auch eine Menge über die Leute wissen, wenn man sie richtig einsetzen will . . .« Er blinzelt mir im Gehen zu. Eine Menge Arbeiter haben mir schon so zugeblinzelt, wenn sie mir zu verstehen geben wollten: Paß mal auf, was wir alles können! Es gibt Eigenschaften, die untrüglich den Arbeiter ausweisen, auch wenn er die Uniform des Majors trägt. Ullmann offenbart sie, vielleicht ohne es selbst noch zu merken. Sie sitzen ihm tief im Blut.

 
     
Major Heinz Ullmann   Major Ullmann beim Nachtdienst
auf dem Startkontrollpunkt

Dann nimmt mich Joachim Brücke mit, Hauptmann, 30 Jahre alt, Flugzeugführer der Klasse I und Kettenkommandeur. Ein ganz anderer Typ als Ullmann, auf den ersten Blick. Er wirkt jung, beinahe schneidig, erzählt mir von sich, während der Unterrichtsraum sich füllt, in dem Hauptmann Brücke sogleich mit seiner Staffel gegnerische Flugzeugtypen »bimsen« wird. Wie Ullmann ist Brücke einer der Flugzeugführer des Geschwaders. Aber sein Weg war ein anderer. Er stammt von jenseits der Oder. Mit seiner Mutter siedelte er nach 1945 als Schuljunge in den Kreis Fürstenwalde um. Irgendwo hatte er ein altes Scherenfernrohr gefunden, damit beobachtete er die Flugzeuge, die am Himmel kreisten. In dem Umsiedlerjungen, der noch bis 1952 zur Schule zu gehen hatte, war der Wunsch, Pilot zu werden, schließlich stärker als alle Bedenken der Mutter gegen diesen »gefährlichen Beruf«. Aber der Weg war trotzdem weit. Zunächst begann eine Lehrzeit als Bauschlosser ». . . bei einem kleinen Privatkrauter, wo kaum was zu lernen war . . .« Dann besichtigte der etwas unzufriedene Lehrling den VEB Schwermaschinenbau Wildau und – blieb dort. Als Dreherlehrling. Die FDJ vermittelte ihm die ersten wesentlichen Erkenntnisse für sein künftiges Weltbild. 1955 war er ein gutbezahlter Facharbeiter. Aber das genügte ihm nicht. Er wollte zur Fliegerei. Und er schaffte es, denn dieser Junge steckte voller Energie und war zielstrebig. Eigenschaften, die ihm sehr zustatten kamen, als er im Mai 1955 zur KVP ging. 1956 flog er zum ersten Mal die gute alte Jak-18. Er schulte auf der MiG-15, der MiG-17, bis ihm später die MiG-21 anvertraut wurde.
Wenn man mit ihm spricht, hat man zuweilen den Eindruck, einen unbekümmerten »großen Jungen« vor sich zu haben. Doch der Eindruck trügt. Brücke ist ganz gewiß ein heiterer Mensch, der keine Lust hat, Dinge zu komplizieren, die einfach sind. Nur ist das nicht alles. Er ist mit Fleiß und Zähigkeit ausgestattet, mit der Gabe leichter Auffassungsfähigkeit und dem Blick für das Wesentliche. Für einen Schriftsteller ein hochinteressanter Partner. Selbstkritisch ist dieser Hauptmann, eine Eigenschaft, die in der Freimütigkeit seines Charakters begründet ist. »Es ging nicht immer alles glatt bei mir«, erzählt er. »Vor 1962 war ich ein ziemlich unruhiger Geist. Nach dem Dienst, wenn ich in mein Junggesellenwohnheim kam, fiel mir die Decke auf den Kopf.« Bei jungen Leuten ist das manchmal so. Brücke hatte lange Zeit nicht das, was ihm die nötige innere Ruhe und Ausgeglichenheit für seinen verantwortungsvollen Beruf geben konnte. Er hatte Ärger mit den Genossen, die ganz genau merkten, wie seine fliegerischen Qualitäten nachließen, wie er unbekümmert wurde. Man sprach mit ihm, aber das funktionierte nicht sogleich, und dann »verordneten« ihm seine Vorgesetzten ein halbes Jahr lang Dienst im Gefechtsstand. Erst als er nun täglich vom Boden aus zusehen mußte, wie andere Genossen flogen, wurde er sich bewußt, daß er fraglos die Kraft und Selbstdisziplin besaß, seine Lebensgewohnheiten in Einklang mit seinem Dienst als Flugzeugführer zu bringen. Man hatte ihn auf eine Probe gestellt, die er nicht nur einfach bestand. Sie brachte ihn ein großes Stück weiter.
Heute existiert das alles nur noch in der Erinnerung, bei ihm und auch bei den Genossen. Er ist nicht nur ein guter Flieger geworden. Er hat seine politische Bildung unablässig erweitert. Der Genosse Hauptmann Brücke gehört zu den zuverlässigsten Kadern des Geschwaders. Er ist stolz darauf, eine gute Ehe mit seiner jungen Frau zu führen, und für ihn gilt dasselbe wie für Major Ullmann: »Ein Flug endet mit der Erfüllung der gestellten Aufgabe. Grundsätzlich.« Es ist das Charakteristikum unserer Arbeiter-und-Bauern-Armee, daß sie die besten Eigenschaften, die Fähigkeiten und den Charakter des Menschen zu seiner höchsten Entfaltung bringt. Dafür ist Joachim Brücke ein Beispiel. Ein Soldat, der ganz genau weiß, welch hohe Verantwortung er hat, wenn er die MiG-21 startet, um eine Gefechtsaufgabe zu erfüllen. »Die Grenzen unseres Staates sind unantastbar. Wer sie in der Luft verletzt, hat zuallererst uns vom diensthabenden System als Gegner vor sich. Und wir sind nicht zu Späßen aufgelegt, wenn man uns herausfordert.« Er erinnert sich an den April 1965, als der westdeutsche Bundestag seine provokatorische Sitzung in Westberlin abhielt. »Damals flog ich eine MiG über der ,Frontstadt’«, sagt Brücke. »Das war für mich eine hohe Auszeichnung.« Identifikation mit dem Befehl? Er sagt lächelnd: »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Diesen Befehl hätte ebensogut ich selbst gegeben. Es ist bei bestimmten Anlässen nötig, den Bonner Provokateuren ganz deutlich die Grenzen ihrer Macht zu zeigen. Es kühlt sie ab. Hält sie vor Abenteuern zurück, die damit enden können, daß sie mit zerschmettertem Genick auf unserer Erde aufschlagen. So ist das. Deshalb bin ich damals mit dem vollen Bewußtsein geflogen, einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in Europa zu leisten. Es war für mich ein Höhepunkt meiner fliegerischen Laufbahn . . .«

 
   
 
Hauptmann Joachim Brucke  
   
 
Als Fluglehrer vermittelt Hauptmann Brucke seine reichen fliegerischen Erfahrungen an jüngere Genossen des Geschwaders  
   
 

Die Zeit vergeht. Brücke muß seinen Dienst abhalten. Der Pilot des diensthabenden Systems ist nicht nur Tag und Nacht kampfbereit. Er kennt seinen Gegner genau, seine Strategie und Taktik, seine Schwächen. Fliegen ist Wissen und Können, auf dem Fundament des sozialistischen Bewußtseins. Der Unterrichtsraum, in dem Hauptmann Brücke und seine Genossen sitzen, gleicht dem Hörsaal einer technischen Universität.
Ich gehe noch einmal am Gefechtsstand mit seinen Radarschirmen, den Funkgeräten, Telefonen, den riesigen Glas-Landkarten vorbei. Vor der Westgrenze der DDR sind die Anflugbewegungen eines halben Dutzends gegnerischer Maschinen markiert. »Sie tasten systematisch unsere Grenzen ab«, sagt der leitende Offizier, während er den Radarschirm beobachtet. »Sie wollen vielerlei: Eine Lücke finden, unsere Aufmerksamkeit einschläfern, uns an das Gewimmel in der Luft unweit der Grenze gewöhnen, bis wir einmal eine halbe Minute unaufmerksam werden . . . Aber sie kommen nicht durch. Und das wissen sie.«
Draußen drehen sich die Radarantennen auf den hohen Masten. Von der Piste her donnern Triebwerke. MiGs ziehen steil in den Himmel, den Donner hinter sich lassend. Das diensthabende System der Luftstreitkräfte ist bereit, Tag und Nacht und gegen jeden, der die Illusion hat, das friedliche Leben der Bürger in unserem Lande zu bedrohen. Es ist gut, das zu wissen. Es ist gut, die Piloten erlebt zu haben, und es ist gut, sich gelegentlich daran zu erinnern.