JANGTSE BABY
Ich kann nicht mehr alle Kampagnen aufzählen, die in jener Zeit, im Sommer 1958, in China liefen, es war hauptsächlich noch die gegen die Rechten, aber es wurde auch gegen Revisionisten und Abweichler aller Art zu Felde gezogen. Außerdem gab es die ersten Anzeichen von etwas, das sich Großer Sprung nach vorn nannte, und im Zusammenhang damit die Bewegung zur Gründung von Volkskommunen, sowie die Bewegung des Stahlschmelzens durch das Volk.
Da ich an einer chinesischen Publikation arbeitete, hatte ich täglich damit zu tun. Mir (übrigens auch meinem Freund E.S., der im selben Betrieb tätig war), kam so manches an diesen Bewegungen, die einander ablösten, eigenartig vor. Zuweilen verstand ich nicht so recht, um was es ging, und manchmal war ich versucht, mir an den Kopf zu tippen, mit der bekannten Geste. Ich hätte auch ganz gern ab und zu laut lachen mögen, aber das unterließ ich lieber, ich war Gast im Lande, beratend tätig, in Sachen Innenpolitik also bestenfalls Beobachter, und ich war von diesen Wirren nicht persönlich betroffen. Dachte ich jedenfalls.
Angefangen hatte es mit der Parole, daß Hundert Blumen blühen und hundert Schulen (im Sinne von Denkweisen) miteinander wetteifern sollten.
Das ließ sich so an, daß Leute - vorwiegend auf den sogenannten Datsebaos, den Große-Schriftzeichen-Wandzeitungen, wie man es annähernd begreiflich übersetzen kann ihre Meinung zur Politik im Lande äußerten, Mißvergnügen auch, Unzufriedenheit, Ärger über offenbaren Unsinn, den die Organe anrichteten. Leute bemalten in Ermangelung von unbeschriebenem Papier - wohl auch des Preises wegen - große Zeitungsseiten mit den Schriftzeichen im Format von Handtellern, wobei sie dicke Pinsel benutzten, die die Schrift von dem unterliegenden Druck abhoben. Die Bögen wurden dann überall wo Platz war - auch da, wo eigentlich keiner war - angeheftet, man spannte Schnüre über Korridore und durch Büros und Kantinen und hing die Blätter, ähnlich wie Wäsche zum Trocknen aufgehängt wird, einfach hin, so daß jeder sie lesen konnte.
Manchmal hatte man den Eindruck, in ganz China hinge eine komische Art von Wäsche herum. Man mußte den halben Tag gebückt laufen, etwa in einer Redaktion wie der unseren, in der aufrechter Gang ... na ja ...
Wie leichtfertig es ist, vom äußeren Erscheinungsbild auf die Substanz der Sache zu schließen, lernt man in China schnell, und auch im Falle dieser Datsebaos erfaßte ich bald, was sich Mao Tse-tung, von dem die Idee zu dieser (und den folgenden) Kampagnen stammte, dabei gedacht hatte. Er wartete geduldig ab, und im geeigneten Moment drehte er den Spieß um. Er äußerte, auf den Hundert-Blumen-Aushängen zeige sich das wahre Gesicht der politisch-gegnerischen Kräfte im Lande, und diese zu bekämpfen sei Ehrensache für jeden anständigen Chinesen. Worauf dann eben die Bekämpfungskampagne folgte. Wer noch eine Woche zuvor auf einem Datsebao bemängelt hatte, daß keine Deckel für die Tintenfässer in den Büros vorhanden waren und so bei den Sandstürmen des Frühlings die Tinte zu Paste wurde, während sie unter den heißen Sommertemperaturen fortwährend austrocknete, der sah sich nun plötzlich als Anschußziel einer sogenannten Kampfversammlung, in der ihn zweihundert Leute anschrien, er wolle in Wirklichkeit nicht die Sache mit der Tinte verbessern, sondern das sozialistische Staatswesen dadurch öffentlich beleidigen, daß er andeute, die neue Obrigkeit sei zu dumm, Tintenfaßdeckel herstellen zu lassen. Je nach Verlauf einer solchen Versammlung (von der Art liefen allein in unserem Betrieb Dutzende täglich ab, bis in die späte Nacht hinein), auch je nach Reaktion des Einzelnen wurde er als ob seines Irrtums Kritisierter oder als Reaktionär deklariert. Im letzteren Falle ging die Sache weiter, und er konnte bekehrt werden, oder aber als Rechtselement eingestuft, was mit Sicherheit ernste Konsequenzen nach sich zog, zumindest den Verlust der Position im Arbeitsprozeß, nicht selten aber Umerziehung. Die wiederum konnte im Kollektiv der Kollegen erfolgen, aber es konnte auch angeordnet werden, daß der Betreffende sich in einem Lager bei harter Arbeit zu reformieren habe. Ich erinnere mich, daß wir beiden Deutschen, die wir das alles mitansehen, für den letzteren Prozeß den flapsigen Ausdruck ... er geht nach Arbeit macht frei verwendeten, zumindest eine Zeitlang. Nicht daß wir diese Inschrift über den Lagertoren der Nazi-KZs vergessen hätten, nein, wir fühlten uns wohl eher daran erinnert, obwohl ein Vergleich hier unangebracht ist. Es war eine in vieler Hinsicht bewegte Zeit, als im Hochsommer 1958 mein Urlaub in Sicht kam. Ich wollte nicht nach Hause fliegen, sondern mir ein Stück Land ansehen, das mich schon lange interessierte.
Den Jangtsekiang hinauf wollte ich fahren, mit einem Flußdampfer, der an jedem Hühnerstall Station machte, von Shanghai bis mindestens Tschungking. Überraschenderweise bekam ich sogleich die Genehmigung dazu. Vielleicht war das der Fürsprache meines chinesischen Chefs zu verdanken. Der gab mir auch gleich noch ein paar nützliche Tips. China war alles andere als ein Touristenland, und zudem befand es sich in erheblichen innenpolitischen Turbulenzen. Daß ich sehr viel später einmal einen dreibändigen Roman über jene Zeit schreiben würde, ahnte ich damals noch nicht. Aber Unternehmungen dieser Art, wie eine Fahrt auf dem längsten Strom Asiens, standen schon lange auf meiner Wunschliste.
Ich hielt mich ein paar Tage in Shanghai auf, bis ich einen Platz auf einem ziemlich abgearbeiteten Jangtse-Flußschiff bekam, das stromaufwärts fuhr. Da wurden Lasten befördert, vom lebenden Schwein bis zum Schaltschrank. Und es gab mehr als hundert Passagiere an Bord. Männer, Frauen, Kinder. Sie fuhren nicht alle bis Tschungking. Viele würden an einer der Anlegestellen unterwegs aussteigen, andere zusteigen - ein Bummelzug auf dem gelben Wasser des Kandijang, wie er auch genannt wurde, der lange Fluß.
Daß in China, besonders in den Massenverkehrsmitteln, soziale Unterschiede nur in seltenen Fällen erkennbar wurden, weil Kleidung, Frisur und andere Äußerlichkeiten im Gegensatz etwa zu dem, was einem aus Europa geläufig war, sich fast aufs Haar glichen, wußte ich. Trotzdem überraschte mich, als wir Shanghai verließen und ich an der Reling stand, ein kleiner, schäbig gekleideter Mann, den ich auf fünfzig Jahre schätzte, und der zum üblichen Schlosserblau eine graue Schiebermütze auf dem kahlen Haupt sitzen hatte. Während wir die Front der beeindruckend hohen Gebäude am Bund, die Modernität und Geschäft suggerierten, an uns vorbeiziehen ließen, erkundigte sich der Mann bei mir: »English?«
Ich gab höflich zurück: »German.«
Und da schlug der kleine Mann freudig die Hände vor der Brust zusammen, strahlte mich aus seinen dunklen Augen an und rief in etwas chinesisch gefärbten Wienerisch: »Joa mei, a Deitscher! Servus! Hamma a gemeinsame Reise! Sans gegrüßt!«
Er hielt mir die Hand hin und stellte sich vor: »Wu, mei Name, freit mi, an Deitschen ztreffa, wohin genga ma denn?«
Er gab sich offensichtlich noch rechte Mühe, den Dialekt auch zu treffen. Ich vermutete, daß er in Westeuropa studiert hatte und die Sprache dabei auflas.
Was der Figur nicht etwa ihre Komik nahm. Es gehört schon Disziplin dazu, ernst zu bleiben, wenn einen auf einem Jangtse-Schiff, das gerade Shanghai verläßt, ein Chinese ausgerechnet im gemütlichsten aller europäischen Dialekte anspricht. Immerhin war es aber angenehm, auf einer so langen Fahrt jemanden in der Nähe zu haben, mit dem man in der Muttersprache parlieren konnte - mein Chinesisch war nur angelernt, es bestand aus Redewendungen, die man täglich brauchte. Jeder Chinese, bei dem ich Versatzstücke davon praktizierte, unterdrückte stets ein nachsichtiges Lächeln.
Deshalb gab ich Herrn Wu bereitwillig Auskunft: »Bis Tschungking. Urlaubsfahrt mache ich ...«
Ich sagte ihm auch, wo ich arbeitete und woher ich kam. Sein Wienerisch, in dem er ein paar Bemerkungen machte, wurde zwar im Laufe unserer Unterhaltung disziplinierter, aber es kam mir bei einigen Bemerkungen, die er machte, so vor, als habe er unter jüdischen Wienern gelebt, deshalb erkundigte ich mich, wieso er die Sprache so gut beherrschte, und ich erfuhr, daß er etwas älter war, als ich ihn geschätzt hatte. Das passierte einem bei Chinesen öfters.
Wu hatte in den dreißiger Jahren in Wien Medizin studiert. Um diese Zeit war daheim in China die Kuomintang an der Macht gewesen, die Partei Tschiang Kai-sheks. Aus ihrem Stall waren auch die Diplomaten in den Botschaften im Ausland. Und als Hitler Österreich zur Ostmark Deutschlands machte, verblieb in Wien ein Konsulat Chinas, die Botschaft befand sich danach in Berlin. Das war die Zeit, zu der Herr Wu, der mit vollem Namen Wu Tai-hsien hieß, den Beruf des Mediziners erlernte. Er sah verbittert zu, wie seine ehemaligen Mitstudenten mit Zahnbürsten das Kopfsteinpflaster schrubben mußten, nur weil sie Juden waren. Nach seiner Promotion blieb Wu mit Duldung des Konsulats für eine Praktikantenzeit in Wien. In dieser Periode brach der zweite Weltkrieg aus.
»Aber i«, erzählte mir Wu freimütig, »i hoab an Schutzengel gehoabt! I könnt weitermacha. Hoab viel lerna kenna. Hoab mi dann auf Frauenkrankheiten und Geburtshilfe spezialisiert ...«
Er erzählte mit Unterbrechungen. Immer wieder sah er sich an Bord um, als erwarte er noch jemanden, oder als fühle er sich verfolgt.
Wir legten nicht lange nach der Ausfahrt nochmals am Südufer der Mündung des gewaltigen Stromes an, der besonders an seinem Unterlauf oft eher einem System von miteinander verbundenen Seen ähnelt als einem Fluß. Auf dem Jangtse, das wußte ich von einer früheren, kurzen Fahrt bis Nanking, fühlt man sich, wenn der Schiffsführer in der Mitte des Stromes manövriert, wie auf dem Meer.
Jetzt war das noch nicht so, denn in Woosung wurde Ladung genommen. Wir beobachteten das Einladen, und Wu war so nervös, daß ich mich doch nach seinem Befinden erkundigte.
Er schien sich zu der Wahrheit erst durchringen zu müssen, denn es vergingen Minuten, bis er mir eingestand: »Joa, i schau, ob Leut komma, die mi kenna ...«
»Haben Sie nicht gern, wenn Bekannte Sie begrüßen?«
Es dauerte wieder eine ganze Weile. Erst vergewisserte er sich, daß keine Passagiere mehr an Bord genommen wurden, die er noch nicht gesehen hatte.
Dann flüsterte er mir zu: »I bin a Element!«
Ich war in China gewöhnt, verquere Sprüche zu hören. Manchmal entstanden sie aus der Bemühung, einen chinesischen Begriff wortgetreu ins Deutsche oder ins Englische zu übersetzen. Aber was war nun ein Element?
Als ich Herrn Wu verständnislos ansah, merkte ich, wie Angst in sein Gesicht schoß. Er flüsterte, sich Mühe gebend, hochdeutsch zu sprechen: »Werden Sies für sich behalten? Bitte!«
Ich wußte, daß man auf Chinesen nicht gerade den besten aller Eindrücke macht, wenn man Ungeduld zeigt, aber ich konnte es nicht verhindern, daß mir die Frage entfuhr: »Was zum Teufel soll ich für mich behalten? Und was ist ein Element?«
Es dauerte lange, bis er sich überwand. Dann erinnerte er mich: »Sie kennen doch die Bewegung?«
In China gab es unzählige Bewegungen, von der zur Sammlung der Altstoffe über die Geburtenkontrolle per Präservativ bis zur Sauberhaltung der Gassen oder der Bekämpfung von Fliegen, also zuckte ich die Schultern: »Welche?«
»Gegen die Rechtselemente. Doss bin ich. A Rechtselement eben ...«
Erst da begriff ich. Und ich konnte mir manches an seinem Benehmen erklären, Als wir aus Woosung ausliefen, lud ich den Arzt in meine Kabine ein. Ich hatte als einziger an Bord eine, einen einfachen Raum mit einer Pritsche. Es war Vorschrift, hatte man mir, als ich die Fahrt buchte, gesagt, daß ein Ausländer eine Kabine buchen mußte. Ich begriff das später erst. An Bord eines solchen Flußdampfers, der ja nicht als Vergnügungsschiff unterwegs war, sondern Passagiere beförderte, die in Siedlungen am Strom wohnten, dazu ihre Hühner, Schweine manchmal, Behälter mit Fischbrut, fand man meist sehr einfache Leute, Dorfleute eben, aus Zentralchina, und die waren nicht an Ausländer mit anderer Hautfarbe und vielerlei anderen Unterschieden gewöhnt. Sie pflegten das nicht zu verbergen, ließen ihrer Neugier freien Lauf, und das empfand die Obrigkeit als nicht so gutes Image für die künftige Weltmacht China. Deshalb achtete sie auf eine gewisse Distanz die, so dachte man da, sei durch die einzige Kabine an Bord gegeben.
Wobei man nicht berücksichtigte, daß Reisende ja auch einmal eine Toilette benutzen mußten, daß sie sich wuschen oder duschten. Und gerade dabei erwies es sich, daß man höfliche Zurückhaltung bei Chinesen tatsächlich als Teil des so oft strapazierten Nationalcharakters bezeichnen kann. Wenn ich zur Toilette ging, riefen die Mütter selbst neugierige Kinder zurück, die gern sehen wollten, wie die Langnase sich da anstellte. Das Schlimmste an Indiskretion, was mir auf diesem Boot unter Menschen, die noch nie - mit Ausnahme des Arztes vielleicht - einen Europäer aus der Nähe und bei täglichen Verrichtungen gesehen hatten, passierte, war der staunende Ausruf einer Frau, die mich mit unbekleidetem Oberkörper sah. Sie wollte wissen, ob es mir mit dem Pelz nicht zu warm sei, bei 38 Grad Celsius im Schatten, den wir nicht hatten.
Meine Erklärung, daß das auf der Brust gewachsene Haare seien, kein Kleidungsstück, nahm sie mir nicht so ohne weiteres ab, weil Chinesen eben Haare auf der Brust nicht kennen. Sie wollte daran zupfen, und ich ließ sie das tun, unter dem Gelächter der Umstehenden. Was zur Folge hatte, daß später, immer wenn ich die Dusche benutzte, ein halbes Dutzend Kinder sich draußen drängten und die Langnase mit Pelz sehen wollten. Möglichst daran zupfen, um damit prahlen zu können. Ich gestehe, das machte mir mindestens ebensoviel Spaß wie ihnen!
Ich nahm also Doktor Wu mit in meine Kabine, und wir unterhielten uns ohne Zeugen, bei heißem Wasser aus der überall vorhandenen Thermosflasche, mit ein paar Teeblättern in den Tassen, während der Dampfer stromauf Fahrt machte.
Draußen bereiteten sich die Passagiere auf die Nacht vor. Sie rollten ihre Matten aus, ohne die sie nie reisten, bald herrschte Ruhe, nur das Stampfen der Maschine war zu hören, das Plätschern des Kielwassers, und hin und wieder seufzte jemand auf dem Deck draußen im Schlaf. Eine große Familie, einer neben dem anderen, so lagen sie da, im linden Hauch der Abendbrise.
Und ich - der einzige an Bord, der durch eine dünne Holzwand von den übrigen getrennt wohnte, schlief nicht, sondern ließ mir von Doktor Wu erzählen, was die Ursache seiner Angst war ...
Ein Jahr nach Ende des Krieges im Pazifik hatte er die Heimreise angetreten. China war ein armes Land, es brauchte -nicht nur - Ärzte. Wu folgte, wie er es ausdrückte, dem Ruf der Pflicht. Er hatte eine Österreicherin geheiratet, die nahm er mit. Vorerst nach Kanton, dort war schon ein ziemlich normales Leben möglich. Aber je weiter nördlich man kam, desto näher geriet man an die Auseinandersetzungen zwischen der Kuomintang und den chinesischen Kommunisten, die von Jenan aus zur Erringung der Macht im Lande aufgebrochen waren.
Zwei Jahre nachdem Mao Tse-tung von der Brüstung des Tien An Men aus die Gründung der Volksrepublik proklamiert hatte, starb Wus Frau an den Spätfolgen einer nicht völlig auskurierten Gelbsucht, eine in dieser Gegend nicht seltene Todesursache.
Wu blieb im Lande, obwohl er eine Wreile mit dem Gedanken spielte, nach Österreich zurückzugehen, das wieder selbständige Republik war, und wo er viele gute Freunde hatte. Er bekam im Stadtkrankenhaus in Shanghai eine Stelle als Leiter einer Frauenstation, und war bald ein angesehener Arzt in der riesigen Stadt, der selbst auch zufrieden mit sich war, weil er seine im fernen Europa erworbenen Kenntnisse nun zum Wohl der seit Generationen geschundenen, von einem Krieg in den anderen, von einer Hungersnot in die nächste getorkelten Landsleute verwenden konnte. Bis auf daß er keine Frau mehr hatte, auch keine Kinder, und daß er sich auch nicht mehr so recht entschließen konnte, wieder zu heiraten, war er ein glücklicher Mann. Und - ein Patriot. Ich verwende diesen Begriff mit äußerster Vorsicht. Aber ich bekam den Eindruck, als Wu, der schnell Zutrauen zu mir, dem einzigen Europäer weit und breit gefaßt hatte, mir sein Leben erzählte. Unter Chinesen, die lange gemeinsame Reisen machen, ist so etwas nicht unüblich, man vertreibt sich die Zeit mit Schilderungen seiner Vergangenheit. Ich empfand das als wohltuend andersartig, denn ich war es als Europäer gewohnt, daß sich die Leute auf Reisen vornehmlich Witze erzählen, eine kulturelle Äußerung, der ich nicht unbedingt den Vorrang vor der chinesischen Gewohnheit einräumen möchte. Und trotzdem - Wu war wohl nur so offen, weil ich eben kein Chinese war, sondern Ausländer. Er fühlte sich von mir nicht bedroht, rechnete wohl sogar damit, daß ich seine Misere verstehen würde.
Patriot Wu. Glücklicher Mann, trotz des Schmerzes. Er fand Freude in der täglichen Arbeit, wurde von seinen Patientinnen verehrt, man sprach über ihn, lobte ihn, zeichnete ihn für gute Leistungen aus, bis - und da komme ich zurück zu den Bewegungen.
Die Hundert Blumen blühten auch in Shanghai. Und es fing damit an, so erzählte mir Wu bei Tee und Keksen, im Licht einer Kerze, um die ein paar Motten schwirrten, untermalt vom gelegentlichen Schnarchen eines der Deckschläfer, daß er fand, an der Fürsorge für die Patientinnen könnte einiges verbessert werden.
Das fing beim Essen an, bei der Wäsche, den hygienischen Einrichtungen im Hause, ging über die nach Wus Meinung nötig werdende Qualifizierung der in China ausgebildeten Ärzte hin zum Weltniveau bis zu den dogmatischen Funktionären in der Verwaltung, die es zum Gipfel des Vaterlandsverrats erklärten, als Wu in einem Datsebao schrieb, es wäre gut, wenn die jungen Ärzte zu ihrer Weiterbildung die Lektüre ausländischer Fachpublikationen nutzen könnten.
Man veranstaltete mit ihm das, was ich auch aus unserem Betrieb kannte, eine sogenannte Kampfversammlung, in der der Bekämpfte allein auf der Bühne stand und von vorbereiteten Anklägern aus dem Saal in einer sehr gut eingeübten Prozedur seine Sünden wider die Gesellschaft in schreiendem Ton vorgehalten bekam. Das konnte Stunden dauern. Manchmal zog sich der Prozeß mit Pausen über Wochen hin. Für gewöhnlich endete er damit, daß der Bekämpfte seine Stellung verlor. Politische Freigeister und Unliebsame wurden auf diese Art verdrängt, mancher total Harmlose war dabei, der nur eine Dummheit geäußert hatte. Nicht selten aber wurden alte Rechnungen beglichen, sehr private, und der Neid war im Hintergrund der Anklagen allgegenwärtig.
»Ich habe jetzt ein halbes Jahr in der Krankenhausküche Geschirr gewaschen«, erzählte mir Wu. Seine Stimme vibrierte etwas dabei, ich wurde mir nicht klar, ob aus Zorn oder aus Angst, daß sich das fortsetzen könnte.
»Und dann«, er konnte, wenn er ernste Dinge berichtete, mundartfrei deutsch sprechen, »brachte ein Kollege, den ich einmal wegen eines Kunstfehlers gerügt hatte, das Gerücht in Umlauf, ich hätte während meiner Studentenzeit der österreichischen Geheimpolizei Informationen über Kommilitonen geliefert, die dann eingesperrt wurden, wegen kommunistischer Sympathien. Auch meine verstorbene Frau hätte da mitgetan. Deshalb wäre sie auch mit nach China gekommen, weil man sie in Deutschland wohl belangt hätte. Bedenken Sie, er klagte mich an und wußte nicht einmal, daß nach dem Krieg Österreich wieder Österreich war und nicht Deutschland!«
»Hat er die Namen von Betroffenen genannt?«
»Es gibt keine Betroffenen«, antwortete Wu heftig, »deshalb konnte er auch keine Namen nennen. Er war in seinem Leben weder jemals in Österreich noch in Deutschland, er wollte sich, wie andere Nichtskönner auch, eine gute Position verschaffen. Leute wie er lügen. So einfach ist das, einen Menschen kaputtzumachen.«
Ich sagte: »Ich habe das miterlebt. Laut schreien genügt. Was war dann? Geschirr waschen?«
Seine Stimme wurde noch leiser, sein Deutsch noch sorgfältiger, als er mir antwortete: »Sie haben mich bereits zu Lao Gai verurteilt. Ich bin auf der Flucht!« Lao Gai war die Bezeichnung für das, was einem bekämpften Element drohte, wenn endgültig entschieden wurde, daß der Betreffende aus der Gesellschaft auszumerzen sei. Es hieß wörtlich Ehrenhafte Arbeit, was eine verharmlosende Vokabel war. In Wirklichkeit eine Prozedur, die sich in unwegsamen Gegenden des Nordwestens abspielte, und die viele Leute das Leben kostete. Die Gesundheit in jedem Falle.
»Sie wollten mich in einen Steinbruch in Sinkiang schicken«, sagte Wu. »Es war schon alles abgemacht.« Er bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen. Hielt mir seine Hände hin: »Die würden als erstes zerstört werden. Wie soll ich mit Händen, die von Granit zerschunden sind, jemals wieder eine Operation ausführen?«
Ich beruhigte ihn. Er hatte sich mir anvertraut, und nun hielt ich es für selbstverständlich, ihm zu helfen. Fragte sich, ob ich das konnte. Zuerst erkundigte ich mich, ob irgend jemand von seiner Flucht wisse, ob jemand gesehen habe, daß er den Dampfer bestieg, ob es Zusammenhänge gab, die den Behörden den Verdacht nahelegen könnten, er sei auf dieser Route.
»Nein«, erwiderte er kategorisch. »Niemand weiß etwas Man wird ein oder zwei Tage brauchen, bis man merkt daß ich weg bin. Und - ich habe aufgepaßt. In Shanghai, auch in Woosung ist niemand mehr zugestiegen, der auch nur ein bekanntes Gesicht hatte.«
Das, fand ich, waren gute Chancen. In einem solchen Falle war es müßig, um sein Recht kämpfen zu wollen. Das Recht galt während dieser Kampagnen nichts. Nein, da war Ausweichen die bessere Methode. China war geradezu das klassische Land für Ausweicher. Ein unermeßliches Land. Hier einen einzelnen Menschen aufzuspüren, war schier unmöglich, wenn der Betreffende nicht einen entscheidenden Fehler machte. Nur - wohin konnte Wu gehen? Überall wo er sich ansiedelte, konnte man Papiere von ihm verlangen, und eines Tages könnte jemand über eine Rückfrage doch dahinter kommen, weshalb er Shanghai verlassen hatte.
Als ich ihn darauf aufmerksam machte, um Möglichkeiten zu beraten, lächelte er verlegen. So wie Chinesen das zu tun pflegen, wenn sie sich genötigt fühlen, einen Ausländer zu korrigieren.
»Gefährdet bin ich nur noch während der Reise. An meinem Bestimmungsort ist alles geregelt. Niemand wird mich kennen.«
Das überraschte mich. »Und wo ist das?«
Er hatte Vertrauen genug zu mir Fremdem und bewies es, indem er mir erzählte: »Der Ort heißt Yingshan. Ein kleines Nest in der Hwaijang-Bergkette, unweit des Wushangkwan-Passes. Ich habe die Bürgermeisterin des Ortes operiert. Es ging auf Leben und Tod, aber ich konnte sie retten. Nun habe ich mich an sie gewandt, und sie hat nur gesagt, ich solle sofort kommen, ich wäre in ihrem Ort sicher, und ich könnte als Mediziner arbeiten, man brauche mich sogar. Und wie ich heiße, würde man selber festlegen ...«
Da ich die Provinz Hupeh nicht so genau kannte, klärte er mich auf, er werde in Wuhan das Schiff verlassen. Bis in die Nähe vom Wushangkwan-Paß gäbe es eine Eisenbahnlinie, die werde er nutzen.
»Und dann?«
Er lächelte wieder.
»Ich werde mit einem Team von Laienmedizinern arbeiten, das weiß ich schon. Wir werden Dörfer besuchen, in denen man überhaupt noch keinen Arzt gesehen hat.«
»Also müssen wir nur noch hier an Bord fürchten, daß Sie jemand erkennt?«
Er sagte: »Ich glaube, die Gefahr ist vorbei. Wir sind schon weit von Shanghai weg.«
Er verließ dann später meine Kabine, um nicht zuviel Aufmerksamkeit zu erregen, weil er sich als Chinese zu sehr mit einem Ausländer abgab. Aber er versprach mir, am Morgen würde er nun seinerseits ein Gerücht in die Welt setzen, nämlich daß ich einer dieser hochgeschätzter iSuliän/i sei, die China zu Hilfe gekommen waren, und es eine Ehrenpflicht sei, mir bei Verständigungsproblemen zu helfen, da ich die Sprache nicht so ganz beherrsche. Und außerdem wäre es einfach ein Gebot der Höflichkeit, einem Freund zu helfen. Ich hatte so meine Bedenken, ausgerechnet als iSuliän/i zu gelten, das hieß wörtlich übersetzt Sowjetbürger, aber ich machte mir weiter keine Gedanken. Die Chinesen nannten der Einfachheit halber vielfach alle Leute mit heller Hautfarbe, die als Helfer zu ihnen kamen, iSuliän/i.
Wu rollte sich draußen auf dem Deck auf seiner Matte in eine Decke und schlief. Ich träumte, wenn ich nicht schwitzend wach lag, von einer grünen Wiese, die viel Ähnlichkeit mit der am Rande des Strandbades Wildgrund in der Nähe meiner oberschlesischen Heimatstadt hatte. Bis mich dann aus einem Halbschlaf, in den ich bei Hellwerden gefallen war, die Stimme des Kapitäns weckte. Er wollte wissen, ob ich gut geschlafen hätte, ob es mir überhaupt an Bord gefiele und ob ich besondere Wünsche vorbringen möchte. Ein Passagier, der meine Sprache beherrsche, hätte ihn informiert, daß ich ein ganz bedeutender Mediziner sei, nach China gekommen, um zu helfen ...
Ich erschrak. Das konnte nur Wu gewesen sein, der in aller Frühe den Kapitän angelogen hatte. Was hatte er da in guter Absicht nur zusammengeflunkert!
Ich entschloß mich, zu dieser Sache erst einmal gute Miene zu machen, wer konnte wissen, ob ich Wu nicht vielleicht damit nützte. So äußerte ich nur, daß ich ganz gern die landesüblichen Mantou zum Frühstück essen würde, Jasmintee wäre mir recht, und, ja, Hamandeggs (eine Vokabel, die alle Jangtse-Skipper noch aus der englischsprachigen Vergangenheit beherrschen, reines China-Pidgin) wären sehr schön, ansonsten alles was die Chinesen zu essen pflegen, außer Geflügel. Vorsichtshalber sagte ich nicht, daß ich Federvieh einfach nicht mochte, ich klärte ihn auf, ich hätte eine Allergie dagegen, was der Kapitän in Ermangelung einschlägiger Kenntnisse sofort kommentarlos respektierte.
Später, als ich mit Wu sprach, teilte der mir kichernd mit, der Kapitän halte eine Allergie für eine religiöse Überzeugung, die er zu achten habe. Er habe den Koch schon instruiert.
»Sie werden nie Geflügel vorgesetzt bekommen! Und, verzeihen Sie mir, daß ich Sie als Arzt deklariert habe, mir fiel nichts besseres ein, als der Kapitän so plötzlich meinen Rat wollte. Er habe noch nie seit der Befreiung einen Ausländer auf seinem Kahn gehabt ...«
»Ich verzeihe Ihnen!« erklärte ich feierlich und augenzwinkernd. Wie leichtfertig das war, kam mir wenig später zum Bewußtsein. -
Am Morgen ist der Jangtse in das Grau des Flußnebels gehüllt. Ab und zu kämpft sich durch den Dunst der röhrende Schrei einer Sirene von einem anderen Schiff. Dann antwortet das eigene.
Es riecht nach nasser Erde, nach Regen, nach all möglichen Dingen auch, die einem unbekannt sind, und dann plötzlich, es ist wie ein Schrei, knallt die Sonne durch die letzten verwehenden Fetzen am Himmel, und sogleich erstrahlt der Fluß trotz seines trüben Wassers bis ans Ufer, weil das Licht sich in den Millionen winziger Wellenkämme bricht, die der leichte Wind aufwirft.
Ansonsten ist der Jangtse eben voller Schlamm, schwemmt riesige Mengen davon zum Meer, und klares Wasser hat er so gut wie nie gehabt. Aber er ist ein unvergeßliches Erlebnis, in dem sich die Gewalt der Natur ahnen läßt.
Auf einem Dampfer wie dem unseren glitt man nahezu lautlos stromaufwärts, vorüber an den grün bewachsenen Ufern, wo Siedlungen sich ducken, wo plötzlich Fabriken erkennbar werden, an ihren hohen Schloten, wo Herden von Federvieh das ruhige Wasser bevölkern und gelegentlich Kinder an seichten Stellen spielen. Sommer in Zentralchina. Aus der Glocke des klarblauen Himmels knallten gute 50 Grad Celsius herab, und Schatten ist rar.
Schweigend gleiten Sampans vorbei, im Heck eine aufgerichtete Gestalt, Mann oder Frau, die den Dampfer beäugt, bewegungslos. Ab und zu hebt auch einer dieser Bootsleute die Hand, signalisiert unserem Kapitän, daß es ihn noch gibt- Flußleben.
Wir verbrachten einen trägen Tag. In Nanking wurde Fracht ausgeladen, neue aufgenommen. Passagiere, meist mit riesigen Bündeln voller Habe, aber auch welche mit Körben voll Hühner oder Ferkel kamen an Bord, andere verließen das Schiff.
Wu beäugte die Neuankömmlinge mißtrauisch, aber wir waren wohl doch weit genug von Shanghai weg, und hier bestand kaum noch die Gefahr, daß ihn jemand erkannte.
Der Zufall schlug einen Tag und eine Nacht später zu. Ganz anders, als Wu Tai-hsien und ich es erwartet hatten. Wir wurden total überrascht.
Die Leute an Bord hatten sich an mich gewöhnt, daran daß, wenn es sehr heiß war, und ich kam aus dem Verschlag mit der Dusche, auf meiner Brust Haare zu sehen waren, daß ich manchmal mit ihnen Karten spielte, auch Mah Jongg, auch daß Wu oft mit mir schwatzte, weil er eben die Sprache beherrschte, weit besser als ich die seine. Die Leute brachten mir eine Art erträglichen Respekt entgegen. Das heißt, sie übertrieben es nicht. Ich war akzeptiert, das beste, was einem als Fremdem in einem solchen Lande widerfahren kann: Wenn ich eine falsche Karte ausspielte, veralberten sie mich genauso wie einen der ihren - das genau ist die Grundlage dafür, daß man sich unter Fremden wohlfühlt, egal wo es ist, und nicht immer als Ausnahmeerscheinung betrachtet wird, für die besondere Spielregeln gelten.
In Wuhu, einem Anlegeplatz, an dem viel Fracht umgeladen wurde, wohl weil die Stadt ein Eisenbahnknotenpunkt war, stieg der Armeeoffizier mit seiner Frau zu, einer kleinen, hochschwangeren Person, der das Gehen schon erhebliche Schwierigkeiten machte. Auch das Sitzen. Aber sie war guter Dinge, lagerte sich auf ein paar schnell herbeigeschaffte Polster in den Schatten der Aufbauten, und wenn doch einmal ein Sonnenstrahl sie erreichte, weil das Schiff eine Krümmung des Stromes befuhr, hielt der Offizier einen schwarzen Regenschirm über sie.
Wir saßen am Abend bei einer Partie Erh-she-yi, einem Spiel, das man in Deutschland Siebzehn und Vier nennt. Gerade waren wir an Tungkwan und Tatung vorbei, da entstand auf der Brücke Unruhe. Wir hörten die Stimme des Kapitäns, mürrisch: »Ich habe noch gesagt, besser in Tungkwan an Land gehen, mit ihr! Aber nein, er will, daß sie es bis Wuhan schafft ... niemand hört darauf, was ich sage, jetzt ist es zu spät ...«
Nach einer Weile sagte Wu zu mir: »Da ist etwas mit der Schwangeren, höre ich ...«
Wir konnten die Partie nicht zu Ende spielen, weil plötzlich bei uns, die wir am Heck auf Matten saßen, der Kapitän erschien, mit ihm der Offizier, aufgeregt beide, der Offizier den Tränen nahe. Sie redeten so schnell auf mich ein, daß ich überhaupt nichts mehr verstand, immer nur: »Tjing nin, bang mang, yi-sheng ...« Das war ein Ersuchen um Hilfe, an einen Doktor gerichtet, soviel konnte ich fassen. Wu flüsterte mir zu: »Sie hat schwere Wehen. Das Kind kommt. Sie sollen es zur Welt bringen, bittet der Offizier Sie ...«
»Ich? Ein Kind zur Welt bringen? Ich habe keine Ahnung von Geburtshilfe!« Er hörte das kommentarlos an, wobei ich in seinen Augenwinkeln Schalk zu entdecken glaubte, dann sagte er freundlich etwas zum Kapitän, und der gab sofort mehrere »Hao, haos« von sich, Zeichen von Zustimmung. Auch der Offizier nickte.
Wu, der aussah wie ein braver, etwas zögerlicher Mann, bewies nach seiner Flucht, die mir schon als Produkt kühler und schneller Entschlußfähigkeit vorgekommen war, erneut, daß er zu souveränem Handeln in kritischen Situationen fähig war.
Er sagte zu mir: »Tun Sie genau was ich sage. Ich mache das. Aber die Leute halten Sie für den Arzt, nicht mich. Das können wir ihnen jetzt nicht ausreden. Wir verfahren so, daß Sie mir erlauben, Ihnen zu assistieren, weil ich mich mit Ihnen in Ihrer Sprache verständige ... der Rest geht schon seinen Gang ...!«
Als ich ihm etwas beklommen zustimmte, glücklich, daß die umstehenden Chinesen unser Gespräch ja nicht verstanden, obwohl er jetzt ziemlich reines Hochdeutsch sprach, nicht den Wiener Dialekt, verbeugte er sich, als nehme er von mir Anweisungen entgegen, sprach dann zum Kapitän, worauf der wieder »Hao, hao« erwiderte und mit dem Offizier verschwand.
»Schauspieler hätten Sie werden sollen!« knurrte ich Wu an. Wir waren allein. Irgendwo wimmerte leise die Frau, um die sich das alles drehte. Wu grinste nur.
»Was wird das?« wollte ich wissen. »Ich weiß mir beim Arsch keinen Rat, wenn eine Frau ein Kind kriegt! Und hier soll ich die männliche Hebamme spielen!«
Er winkte ab: »Alles geregelt. Es ist etwa das zweitausendachthundertste Kind, dem ich auf die Welt verhelfe. Spielen Sie den Chef, überlassen Sie alles andere mir. Kommen Sie, die Geburt wird in Ihrer Kabine stattfinden, es gibt sonst keinen abgeschlossenen Raum auf dem Schiff ...«
»Auch noch!« stöhnte ich. Aber ich folgte ihm. Ich hatte gar keine Zeit, über sein resolutes Vorgehen zu staunen, denn Kapitän und Offizier schleppten, weil Wu das in meinem Auftrag verlangt hatte, Decken, Polster, Leinentücher, heißes Wasser, eine Flasche Mao-Tai-Schnaps, ein Küchenmesser, eine Menge Mullbinden aus der Schiffsapotheke heran. Im Nu war aus meiner Kabine eine Gebärstube geworden. Wir trugen die Frau hinein, legten sie auf den Tisch, stopften ihr Polster ins Kreuz, ließen sie zur Ruhe kommen, schickten den Kapitän und den werdenden Vater weit weg, und dann widmeten wir uns der Aufgabe, die die Natur uns so unverhofft gestellt hatte.
Ich war das erste Mal überhaupt bei einer Geburt dabei. Für mich ein Ereignis, das ich nie vergessen werde. Wir schrubbten unsere Hände in heißem Wasser, desinfizierten sie außerdem noch mit dem hochprozentigen Mao Tai, wobei Wu leise zu der Frau sprach. Mir sagte er zwischendurch: »Ich beruhige sie. Es ist das erste Kind, da sind die Frauen manchmal ängstlicher als nötig!«
»Die Männer auch«, konnte ich mir nicht verkneifen, ihn wissen zu lassen.
Er erklärte mir: »Aber sie hat Vertrauen zu Ihnen! Dafür habe ich schon gesorgt.«
Ich zischte ihm zu: »Unsinn! Zu Ihnen muß sie Vertrauen haben, Sie österreichischer Medizinmann! Ich habe keinen Schimmer, was man jetzt macht!«
Er verbeugte sich, als habe er gerade Instruktionen von mir bekommen. Wandte sich dann der Frau zu, die wieder leise wimmerte und sprach ein paar beruhigende Worte.
Zu mir: »Sie gehen hinter ihren Kopf. Fächeln ihr Luft zu. Tupfen den Schweiß ab. Summen Sie dabei etwas vor sich hin. Können Sie chinesische Lieder?«
»Ich kann den Choral von Leuthen auf einem Kamm blasen!«
»Keinen Kamm«, entschied er sachlich. »Der Osten ist rot. Summen. Leise. Damit sie abgelenkt wird. In Wien haben wir oft bei Geburten Musik laufen lassen. Sehr originelle Methode ...«
Die Sache gewann langsam einen Zug von Komik, und meine Furcht vor einer Verantwortung, der ich nicht gewachsen war, verflog. Aber das Wimmern der Frau setzte mir schon zu. Ich hatte keine Zeit mehr zum Überlegen. Sie stieß plötzlich einen spitzen Schrei aus, und ich sprang hinter ihre Schultern, hielt sie, fächelte ihr Luft zu, tupfte, und ich war froh, als ich sah, daß Wu den Rest der Arbeit übernommen hatte. Also summte ich Der Osten ist rot.
Wus Gesicht war schweißüberströmt. Aber das war wohl kein Zeichen von Angst, sondern eine ganz normale Erscheinung bei diesen Jangtse-Nächten mit ihren 30 Grad Celsius, und das in einem Verschlag, mit einer Geburt beschäftigt.
Doktor Wu brummte zufrieden, feuerte die Frau an, beruhigte sie, schauspielerte ab und zu in meine Richtung, bis er dann plötzlich einen Jubelruf ausstieß, und ich sah das Baby.
Wu begoß das Messer mit Mao Tai. Dabei teilte er mir hocherfreut mit: »Ein Junge!«
Ich konnte gerade noch brummen: »Das hätte ich zur Not auch erkannt«, da fiel der Kopf der Frau zurück. Ich befürchtete, sie könnte ohnmächtig werden, aber es war nur die Reaktion auf die Anstrengung. Ich hörte Wu rumoren, hörte den ersten Piepser des Babys, und ich hatte den Eindruck, ich müsse allen Schweiß der Welt von den Stirnen aller Frauen dieses Planeten tupfen, bis mir nach einer unendlich erscheinenden Zeit Wu in den Arm fiel und sagte: »So, wir wollen sie mal wieder bißchen flacher lagern ...«
Das war geschafft. Ich kam erst so richtig zu mir, als die Frau die ersten Koseworte zu dem in Tücher gepackten Bündel sprach, das Wu ihr in den Arm gelegt hatte. Er schmiß alle teils bebluteten Fetzen, die herumlagen, in die Schüssel mit dem Wasser, räumte auf, dann schob er die Tür auf und verbeugte sich tief vor dem Vater und den Kapitän, die beide erwartungsvoll dastanden.
Ich hörte ihn etwas sagen, wobei er auf mich wies. Dann befand ich mich plötzlich in der Umarmung des Offiziers, der sich auf diese im Lande traditionell nicht so sehr übliche Weise, von der er annahm, sie sei bei iSuliäns/i Mode, bei mir bedankte, bevor er sich seiner glücklichen Frau widmete. Und dem Baby. Er rief immer wieder: »Nan hai, Nan hai!«
Ich griff mir Wu und drohte ihm scherzhaft: »Kampfversammlung müßte man mit Ihnen machen! Bis Sie zugeben, daß Sie die Sache gemeistert haben und ich nur der Handlanger war!«
Er lächelte. Ging dann zu dem stolzen Vater und sagte etwas zu ihm. Als er zurückkam, erklärte er mir: »Ich habe ihm Ihre Anweisungen für die nächsten Stunden übermittelt!«
Der Mann war unverbesserlich. Ich zischte. »Hochstapler!«
Er bewegte die Schultern. »Wir Chinesen sind alle gute Schauspieler, wenn das Leben es erfordert. Muß man das nicht sein? Es tut mir nur so leid, weil Sie jetzt auch auf den Decksplanken schlafen müssen. Wir können die Frau da nicht gut ausquartieren ...«
Er konnte so unwiderstehlich lächeln, daß ich ihm nicht einmal böse sein konnte. Wir wickelten uns in unsere Decken und legten uns hin. Bevor mich der Schlaf packte, murmelte Wu mir zu: »Gute Nacht, Herr Doktor!«
Und ich gab zurück: »Gute Nacht, Herr Handlanger!«
Wir fuhren bis Wuhan zusammen. In der großen Dreistädte-Stadt ging er an Land. Wir verabschiedeten uns unweit des Hafens, in einem Teehaus, in dem wir auch frühstückten, denn es war Vormittag. Vorher hatten sich die frischgebackenen Eltern unter vielen Dankesbezeigungen von uns verabschiedet, von mir als Doktor und von Wu, dem Helfer!
Mir war, als verlöre ich mit Wu einen meiner besten Freunde. Man muß nicht immer ein Leben lang befreundet gewesen sein, um so zu empfinden. »I glaub, i hoabs gschafft!« sagte er hoffnungsvoll, wieder in seinen Wiener Dialekt verfallend, und blinzelte mir über die Eßstäbchen hinweg zu. »Den Rest des Wegs werd i scho noch ohne Zores hinter mi bringa!«
»Und mir graust davor, daß bis Tschungking noch ein weiteres Baby fällig wird! Was dann?«
Er schüttelte den Kopf. Wirkte fröhlich, als er mich beruhigte. »Ah geh! I hoab mi umgeschaut - da gibts koa Hochschwangere mehr!«
»Und wenn im nächsten Hafen eine zusteigt?«
»Machens koan Schmäh!« riet er mir, »die Götter san mit die Gerechten! Yi-lu ping an!«
Das letzte Farewell. Ich war traurig, daß Wu Hai-tse ebenso plötzlich wie er in mein Leben getreten war, wieder daraus verschwand. Um in irgendeinem Bergnest den Wahnsinn der gerade laufenden politischen Kampagne zu überstehen. Und dann?
Ich stand am Abend, als das Schiff wieder ablegte, an der Reling, in der Nähe meiner jetzt wieder für mich verfügbaren Kabine, und sah die Lichter Wuhans in der Ferne verglimmen.
Ein unvergeßlicher Weggefährte für kurze Zeit war auf dem Weg in das, was er für Sicherheit hielt.
Ein Baby, auf dem Jangtse geboren, dem längsten Strom Asiens, des zauberhaften, rauhen, sanften, wilden, unvergeßlichen Erdteils, trat seinen Weg ins Leben an.
Und ein Deutscher, des Schreibens und Lesens kundig, aber nicht mit den Geheimnissen der Medizin vertraut, guckte in den Himml, den endlosen, unermeßlich scheinenden, der doch der gleiche war wie zu Hause. Fuhr weiter auf dem Schiff, bis Tschungking. Mindestens bis dorthin würde man ihn für einen Gelehrten halten, Wunderarzt und Geburtshelfer von internationalem Format.
Viel später wurde mir bewußt: Ich habe nie im Leben mehr so intensiv und verängstigt zugleich nach schwangeren Frauen Ausschau gehalten wie damals, auf dem Jangtse, zwischen Wuhan und Tschungking ...!
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